Eugen Ruge: „Pompeji“

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Eugen Ruge, geboren 1956, beschäftigt sich in seinen Romanen vornehmlich mit der Vergangenheit. In „Metropol“ schilderte er auf eindringliche Weise das Schicksal der deutschen Kommunisten im Moskau der späten dreißiger Jahre, und jetzt hat er sich der Antike zugewandt. Im Jahre 79 unserer Zeitrechnung verschüttete ein Ausbruch des Vesuvs, damals noch „Mons Somma“ (sic!) genannt, das südlich gelegene Pompeji und tötete dabei die meisten der ahnungslosen Einwohner. Plinius der Jüngere, Enkel des Philosophen und Flottenchefs – ja, diese Kombination gab es damals! -, hat uns einen Bericht über den Ausbruch hinterlassen, bei dem sein Onkel zu Tode kam.

In dem vorliegenden Buch „Pompeji“ stellt Ruge den Jungen Josse – ein Spitzname – in den Mittelpunkt. Josse wanderte als Kind mit seinen Eltern aus Pannonien, dem heutigen Ungarn bzw. östlichen Österreich, nach Süditalien ein, doch der Vater fasste als „Migrant“ keinen Fuß, ging bankrott und fristete sein restliches Dasein mit Tagelöhnerdiensten. Josse schwänzte die Schule und verbrachte die Tage lieber mit gleichgesinnten Freunden auf den einschlägigen Plätzen bei Kraftsport und Kraftmeierei. Schon diese Konstellation kommt dem heutigen Leser recht bekannt vor, und nicht nur aus Migrantenkreisen.

Als junger Mann gerät Josse in ein Außenseiter-Milieu aus selbsternannten Philosophen der unterschiedlichsten Richtungen, die sich zum Beispiel Pythagoräer oder Epikureer nennen, doch die jeweiligen Lehren nach ausgesprochen individuellen Interessen auslegen. Andere sind schlicht Obdachlose oder Schnorrer, und auch geschäftstüchtige Händler sind dabei, die aus den Schwächen der Intellektuellen – Wein und Fliegenpilzsud – ihren eigenen Nutzen ziehen. In das Bürgertum Pompejis geschweige denn in die Oberschicht hat Josse es dank Herkunft und mangelnder Bildung nicht geschafft.

Doch er verfügt über einen starken Überlebens – und Durchsetzungstrieb und merkt sich alles, was die Pseudeo-Intellektuellen um ihn herum von sich geben. Wenn er die teilweise endlosen Ideologie-Tiraden auch nicht versteht, baut er sich aus deren Brocken eine eigene, wenn auch kleine intellektuelle Welt auf. Eher aus Hilflosigkeit denn aus strategischer Absicht verstreut er diese aufgeschnappten Brocken in anderen Kreisen und gilt dort sofort als Kenner. Langsam aber sicher baut er sich eine gewisse Stellung in dieser seltsamen Gemeinschaft auf.

Als schließlich ein Grieche vom Vulkanismus und einem drohenden Ausbruch gerade hier in Pompeji schwadroniert, hat er sein Thema entdeckt und verfolgt es zielsicher weiter. Je nach Bedarf wird dieser Vulkanismus als Bedrohung oder Chance aufgefasst, und Josse bedient die Sehnsüchte und Ängste seiner Mitmenschen mit intuitiven Argumenten. So bündelt er die etwas verworrenen Utopien der prekären Philosophen, die abseits der Stadt am Ufer eine neue Kommune gründen wollen, und verleiht ihnen durch wenige aber zielgenaue Worte ein konkretes Ziel. Diese Szenen erinnern den heutigen Leser an die Hippie-Kommunen der sechziger und siebziger Jahre sowie an die kommerzielle Ausbeutung dieser Bewegung.

So steigt Josse langsam auf, weckt das Interesse der Mittelschicht und schließlich der Oberschicht Pompejis und gewinnt schließlich die einflussreiche und eiskalte Geschäftsfrau Livia für sich, nicht zuletzt wegen seiner jugendlichen Männlichkeit, die Livia bei ihrem eher hedonistischen und korrupten Kommunalpolitiker-Ehemann vermisst.

Anhand dieser Kerntruppe lässt Ruge die Gesellschaft des antiken Pompejis an uns vorbeiziehen, und es ist alles vertreten, was wir in zeitgenössischen Romanen über die Struktur spät(kapitalistisch)er Gesellschaften vorfinden: Eitelkeit, Hochmut, Vorurteile, Missgunst, Neid, Habgier und Korruption.

Dabei erreicht Ruge authentische Wirkung gerade durch eine heutige Sprache. Wo andere Autoren historischer Romane eine vermeintlich authentische weil altertümelnde Sprache wählen, lässt er seine Protagonisten im heutigen Duktus reden. Die altertümelnde Methode mit dem „Ihr“, „Euch“ und alten Worten wirkt meist gravitätisch und starr bis hin zur Lächerlichkeit, während uns die heutige Sprache in ihren Varianten quer durch die Gesellschaftsschichten „normal“ vorkommt. Auf diese sprachliche Weise rückt uns Ruge die Figuren nahe und lässt sie in jeder Situation natürlich und glaubwürdig erscheinen – im Positiven wie im Negativen.

Den gesamten Roman durchzieht dabei die Ignoranz gegenüber den Gefahren der Natur. Die nicht zu übersehenden Anzeichen eines bevorstehenden Ausbruchs – Schwefelschwaden, sterbende Vögel und Schafe, tote Holzsammler am Berg – werden ignoriert oder bagatellisiert, und man geht wie üblich den Alltagsinteressen nach. Das erinnert durchaus an eine weit verbreitete Haltung gegenüber der heutigen Klimakrise, und diese Analogie ist wohl auch beabsichtigt. Der Unterschied zur heutigen Situation besteht jedoch darin, dass es damals keine wissenschaftliche Expertise und entsprechend Warnungen gab, die man hätte beachten oder ignorieren können. Man hatte zwar von Ausbrüchen in alten Zeiten gehört, aber aktuelle Gefahrensignale gab es aus der Sicht des damaligen Wissensstandes nicht.

Ruge nimmt in diesem Buch die Rolle eines allwissenden Erzählers ein, der die Ereignisse angeblich auf der Basis von siebzehn zu einer nicht näher konkretisierten Zeit gefundenen Papyrusrollen wiedergibt. Er vermeidet es aber, sein heutiges Wissen explizit zu nutzen. Die Erzählung bleibt vollständig im Kontext der damaligen Zeit, und die Verbindung zur heutigen Klimakrise ergibt sich einerseits durch die – uns heute bekannten – Analogien sowie durch geschickte sprachlich-stilistische Elemente, die dieselbe Haltung der Gesellschaft gegenüber diesen für die Menschen nicht unmittelbar fassbaren Gefahren zum Ausdruck bringen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass allein die Ähnlichkeit der Ausgangssituation dem wissenden Nachgeborenen die Analogie klar werden lässt. Ruge vermeidet jegliche belehrenden Hinweise über die Ähnlichkeit der Situation und überlässt es den Lesern, selbst die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Auch moralische Bewertungen – direkt oder indirekt – vermeidet Ruge durchgehend. Alle seine Figuren weisen ihre menschlichen Schwächen auf, und selbst der ältere, hoch gebildete Sklave, der intellektuell alle anderen Personen überstrahlt, wird nicht penetrant als (Sklaven-)Opfer dargestellt. Das Sklavendasein war zur damaligen Zeit „normal“, um es einmal so auszudrücken, und Ruge hütet sich, diese durchaus fragwürdige Tatsache in einen wohlfeilen moralischen Triumph des Nachgeborenen umzumünzen.

Das Buch liest sich flüssig, fast wie ein Abenteuerroman, und vermittelt doch viel über das damalige gesellschaftliche und intellektuelle Klima. Es ist im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv) erschienen, umfasst 360 Seiten und kostet 25 Euro.

Frank Raudszus

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