Günther Haller: „Café Untergang“

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Die Stärke dieses Buches ist gleichzeitig seine Schwäche – oder umgekehrt. Bereits auf den ersten Seiten betont der Autor den grotesken Zufall, der vier zentrale politische Gestalten des 20. Jahrhunderts, nämlich Josef Stalin, Adolf Hitler, Josip Broz („Tito“) und Lew Bronstein („Trotzki“) zur selben Zeit in Wien zusammenführte, ohne dass sie sich trafen. Haller verweist auch auf die Versuchung, daraus einen kontrafaktischen Roman zu schmieden, in dem sich etwa Hitler und Stalin treffen und sich z.B. im Streit gegenseitig totschlagen. Was wäre, wenn? Haller hält solche Spekulationen zu Recht für sinnlos und beschränkt sich deshalb strikt auf die Fakten. Das führt natürlich zu vier weitgehend entkoppelten Handlungssträngen, sieht man einmal von der nationalen und ideologischen Nähe zwischen Stalin und Trotzki ab, die eine gewisse Engführung ermöglicht.

Diese gehörten zwar beide zur revolutionären Avantgarde Lenins, konnten aber miteinander nichts anfangen. Lenin hatte Stalin nach Wien geschickt, um dort das den russischen Zuständen ähnelnde Vielvölkersystem zu studieren. Dieser, durch eine harte Jugend introvertiert, misstrauisch und rachsüchtig geworden, vergrub sich vor Ort in seine Arbeit, suchte keine Öffentlichkeit und pflegte selbst zu seinen der österreichisch-ungarischen Sozialdemokratie zugehörigen Gastgebern keinen über das Nötigste hinausgehenden Kontakt. Trotzki dagegen war ein so engagierter wie strahlender Intellektueller mit hoher Eloquenz und weit gefächerten Interessen, der seine Tage in den Wiener Cafés mit lebhaften Diskussionen über alle gesellschaftlichen und kulturellen Probleme verbrachte. Er wartete nur auf den revolutionären Funken in Russland, um dorthin zurückkehren zu können, hätte aber auch in der gehobenen Wiener Gesellschaft ohne Probleme eine sehr gute Figur gemacht. Wahrscheinlich haben die beiden sich in Wien gar nicht getroffen, und wenn, hätten sie sich nichts zu sagen gehabt.

Adolf Hitler versank während der Wiener Zeit in der Bedeutungslosigkeit,. Von den Frauen in seiner Familie verwöhnt, fühlte er sich zu Höherem berufen und verweigerte jegliche Arbeit im bürgerlichen Sinne. Er verbrachte seine Zeit in den armseligen Verhältnissen der Männerasyle und malte Postkarten vom „alten Wien“, die ein Kumpel von ihm an Touristen verkaufte. Ansonsten brodelten in seinem Kopf außer der Selbstüberschätzung Ressentiments gegen Sozialisten, Pazifisten und vor allem die Juden, den er die Schuld an allen Übeln gab. Aus dieser Zeit sind jedoch keinerlei nennenswerten schriftlichen Äußerungen von ihm überliefert. Erst in „Mein Kampf“ wird er die Wiener Zeit wieder erwähnen und sie natürlich als kathartische Epoche tiefer Erkenntnisse stilisieren. Von den hier portraitierten vier „Größen“ der Wiener Zeit kommt Hitler sowohl als Mensch wie auch als Politiker und „Intellektueller“ (man muss das Wort in Anführungszeichen setzen) am Schlechtesten weg. Ausdrücklich weist der Autor darauf hin, dass wohl niemand damals diesem jungen Versager eine so steile Despoten-Karriere zugetraut hätte.

Bleibt noch Josip Broz alias Tito. Er fällt hier etwas heraus, weil er weder zu Wien noch zu den politischen Gärungen irgendwelche Beziehungen hatte. Er kam aus äußerst ärmlichen kroatischen Verhältnissen, wo nur jedes dritte Kind älter als zwei Jahre wurde, und wanderte nach dem Erlernen des Schlosserhandwerks ins neu industrialisierte Wien, wo er in den menschenunwürdigen Fabriken arbeitete und sich seinen Weg in prekären Umständen bahnen musste. Ein politisches Bewusstsein erlangte er erst langsam, nicht zuletzt durch die neu entstehenden sozialistischen Arbeiterkollektive und deren Solidarität. Doch zu politischen Aktivitäten war im Jahr 1913 für ihn noch nicht die Zeit gekommen.

Doch es gibt in diesem Buch noch einen fünften Akteur, und zwar die k.u.k-Monarchie. Haller wagt so etwas wie eine kleine Rehabilitation dieses oftmals belächelten oder gar scharf abgeurteilten Vielvölkerstaates. Er erkennt die wachsende Nationalisierung und damit die drohende Unregierbarkeit, und notiert auch die naive Zukunftsgläubigkeit des Kaiserhauses. Andererseits betont er aber auch die Großzügigkeit der Verwaltung, die lange Zeit eine faktische Autonomie der einzelnen Ethnien zuließ und drakonische Härte durch gutmütigen Schlendrian ersetzte. Das ermöglichte noch lange ein Zusammenleben und war laut Haller nicht die schlechteste Voraussetzung für einen eher föderalen Bundesstaat, wäre da nicht das Attentat vom Juli 1914 gewesen. Außerdem verweist er explizit auf die durch das ethnische Gemisch bedingte geistige Vielfalt und kulturelle Breite, die zu dieser Zeit einmalig in Europa war. Berlin war preußisch-militanter, London rational-kaufmännischer und Paris frivol-künstlerischer, aber Wien war in seinem melancholischen „fin de siècle“-Flair einzigartig, wenn auch etwas lebensmüder. Haller setzt diesem späten Wien ein letztes, nicht gerade kleines Denkmal.

Das Buch ist im Molden-Verlag erschienen, umfasst 190 Seiten und kostet 27 Euro.

Frank Raudszus

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