Der Roman beginnt im Jahr 1986 mit dem Ende des Protagonisten Michel Angelo Vitaliani, der seine Todesstunde im Kreise von 32 Mönchen in der Abtei eines ligurischen Klosters verbringt. Der Sterbende lebt seit vierzig Jahren im Kloster, ohne je ein Gelübde abgelegt zu haben. Er hat als Bildhauer den Kreuzgang und die romanischen Kapitelle mit viel Liebe und großem Können restauriert und so seinen Aufenthalt „in naturalia“ bezahlt. Aber er hat auch „Sie“ geschaffen, aus dem Marmor befreit „mit dem Gesicht eines Engels“. Im Kloster wird „Sie“ versteckt aufbewahrt.
Wer ist dieser Michel Angelo Vitaliani, dem der Autor diesen 500 Seiten umfassenden Roman gewidmet hat, und wer ist „Sie“, Viola, der der Protagonist während seiner ersten vierzig Lebensjahre auf der Spur ist? Er versucht, sie zu ergründen, kommt ihr näher, nur, um doch wieder zurückgewiesen zu werden. Die beiden verbindet eine Seelenverwandtschaft, denn sie sind beide Außenseiter, werden von der Gesellschaft nicht verstanden und müssen mit dieser Isolation zurechtkommen.
Während Viola als jüngstes Kind in einer wohlhabenden Adelsfamilie – den Orsinis – aufwächst, wird Mimo Vitaliani bei einer armen, allein erziehenden Mutter groß. Er ist kleinwüchsig, hat aber von seinem früh verstorbenen Vater ein großes Talent für die Bildhauerei geerbt. Die Mutter erkennt diese Begabung und schickt den Jungen schon früh zu einem entfernten Verwandten in eine Bildhauerlehre. Doch der Onkel verprasst die Ersparnisse der Mutter und fördert den Jungen kaum.
In dieser Zeit lernt Mimo Viola kennen, und die beiden treffen sich heimlich auf dem Friedhof. Ihre Seelen sind sich nah, und Viola versorgt Mimo heimlich mit Literatur aus der Bibliothek ihres Vaters. So erwacht der Geist des Knaben, und es bildet sich ein ganz eigener Intellekt aus. Viola interessiert sich für Naturwissenschaften und will unbedingt ein Flugzeug bauen, mit dem sie fliegen möchte. Sie passt mit all ihren Bestrebungen nicht in die Zeit. Für sie ist nur eine gute Partie in der Ehe vorgesehen.
So kämpfen die beiden jungen Leute heimlich aber beständig um ihre Lebensziele, die ihnen nicht vergönnt sind. Mimo schafft es schließlich, ein berühmter Bildhauer zu werden, hat aber auf dem Weg dorthin viele Hürden zu überwinden. Die politischen Zeiten, besonders der Aufstieg des Faschismus unter Mussolini, und der Zweite Weltkrieg wirbeln die Protagonisten und die gewachsenen Gesellschaftsstrukturen immer wieder durcheinander. Und Mimo? Mühevoll kämpft er um Violas Zuneigung und wird sie doch nicht erringen.
Der Roman schildert das Leben zweier unglücklicher Seelen, die nur phasenweise miteinander können, aber keine glückliche Beziehung erleben. Er zeigt aber auch, wie gesellschaftliche Normen das Leben der Menschen einengen und dennoch bestimmen. Kein Wunder, dass Mimo nach vierzig Jahren in ein Koster wechselt, um aller Unbill der Welt zu entkommen. Und Viola? Sie erreicht trotz aller Energie und Bejahung nicht ihre Ziele und fällt am Ende mit ihrer gesamten Familie einem Erdbeben zum Opfer.
Das Buch ist im Luchterhand-Verlag erschienen, umfasst 507 Seiten und kostet 24 Euro.
Barbara Raudszus
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