Aals zerick ins 19. Jahrhunnerd

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Nach dem die „Hessische Spielgemeinschaft“ ihr Gründungsstück, den „Datterich“, vor zehn Jahren im großen Haus des Staatstheaters Darmstadt und mit aktiver Unterstützung von Vertretern dessen Ensembles in etwas ungewohnter Interpretation gespielt hatte, ist man bei der Neuauflage dieses südhessischen Klassiker jetzt zum ursprünglichen Autor Niebergall zurückgekehrt und leistet ihm mit der aktuellen Inszenierung auf der Terrasse des Staatstheater Abbitte. Dazu hat man man den bekannten südhessischen Komödien-Matador Hans-Joachim Heist für die Hauptrolle gewinnen können.

Elisa Glock, Hans-Joachim Heist, Reiner Maurer, Fiete Schmidt,Heinz Neumann, Ute Bauer

Die Not der mangelnden Tiefe der Terrasse hat man mit einem „Ausrollen“ des Bühnenbildes zur Tugend gemacht. So sind die Spielorte – das Wirtshaus, die Wohnung der Dummbachs und die „Gass“ – im Retro-Stil aus dunkelbraunem Holz nebeneinander aufgebaut. Datterichs enge Dachkammer sitzt darüber wie ein Taubenschlag. Wer nicht gerade in Szene gesetzt ist, verharrt ruhig im angedeuteten Gespräch und mit typischem Gesichtsausdruck auf seinem für ihn typischen Platz.

Die Kostüme spiegeln werkgetreu die Zeit des Biedermeiers, und Aktualisierungen beschränken sich auf die einmalige Aussage Dummbachs, man könne doch heute nicht mehr nach Amerika reisen…

Das „Gasthaus zur Amsel“ mit Lisettsche (Elisa Glock) als resoluter Kellnerin bietet ein ganz besonderes Interieur, indem die Tische stark nach außen geneigte Flächen aufweisen, auf dem Gläser und Flaschen wunderbarerweise ihren ganz natürlichen Halt finden. Vielleicht kannten die Darmstädter des Biedermeiers die Schwerkraft noch nicht, und was man nicht weiß, gibt es ja – nach heute weit verbreiteter Einstellung – auch nicht.

Familie Dummbach: Sophia Carnier, Karin Heist,Thomas Schüler

In diesem kleinbürgerlichen, selbstzufriedenen Umfeld spielt sich die Posse um den Schnorrer und Lebenskünstler Datterich ab, der den halben Tag beim Kartenspiel im Wirtshaus verbringt, gewonnenes Geld sofort vertrinkt und verlorenes anschreiben lässt.

Regisseur Philip Tiedemann hat das Stück wieder nah am Original entlang inszeniert und erweckt das Biedermeier in Darmstadt noch einmal zum Leben. Die kleinen und großen Streitigkeiten ums Geld, die Zeitung als einzige Informationsquelle, die mehr oder minder selbstgebastelten politischen Ansichten und die erotischen Eskapaden und Sehnsüchte werden hier zu den Eckpfeilern der damaligen Gesellschaft, ohne sie deswegen als rückständig zu denunzieren. So derb-kritisch, wie der junge Niebergall seine damalige Heimatstadt gesehen und beschrieben hat, lässt Philip Tiedemann sie auf der Terrasse des Staatstheaters wieder auferstehen.

Zusätzlich hat Tiedemann noch eine dreiköpfige Musikkapelle integriert, die das Stück über die gesamte Zeit mit akustischen Untermalungen begleitet und gleichzeitig als Begleitung für Liedtexte dient, die entweder einzelne Ensemblemitglieder – so etwa Sophia Carnier als Marie – oder das ganze Ensemble als Chor singen. Das lockert das durchaus nicht von Längen freie Stück auf und animiert fast zum Mitsingen – wenn man denn die Texte kennte.

Wirtshausgesellschaft: Daniel Seip, Dawid Kosc, Petra Schlesinger, Sonja Dreher, Sophia Carnier, Karin Heist, Timo Willecke, Regine Hundsdorf, Andrea Mai

Hans-Joachim Heist ist als Datterich tatsächlich die Paradebesetzung. Er beherrscht nicht nur den Dialekt bis hin zu der leicht bösartigen Tonfärbung, sondern auch die gleichzeitig freche und anbiedernde Art dieser Figur. Mit dem zotteligen Haar und dem etwas verrutschten Kostüm stellt er den Typus des schleimigen Schnorrers überzeugend dar und spielt ihn so unsympathisch, wie Niebergall ihn gemeint hat. Das schließt nicht aus, dass man als Zuschauer dann und wann auch ein gewisses Mitleid mit dieser traurigen Gestalt verspürt, die so gar nichts ihr eigen nennen kann.

Für das Darmstädter Publikum spielte natürlich der Wiedererkennungseffekt eine wesentliche Rolle, und man sprach Sprüche wie „Ihne Ihr Physiognomie kommt mer bekannt vor“, „Isch tät ihn doch so gerne haare“ oder „Bezahle, wenn man Geld hat, des is kaa Kunst,…“ fast schon (halb-)laut mit. Da die Handlung den meisten – Stammpublikum! – sowieso bekannt ist, wartet man gespannt auf die jeweiligen Szenen. Von denen sind die mit dem Schuster Bengler (Ralf Hellriegel) die beliebtesten, weil es hier zur Sache geht. Die körperliche und stimmliche Präsenz von Ralf Hellriegel spielt dabei eine wesentliche Rolle, und so erntete die als Schattenspiel organisierte Verprügelung Datterichs durch Bengler viel Sonderapplaus.

Nach zwei Stunden Spielzeit unter glücklicherweise vorbeiziehenden Regenwolken spendete das Publikum kräftigen Beifall, und man traf sich anschließend beim „Woische“ mit Mitgliedern des Ensembles, um einzelne Szenen noch einmal Revue passieren zu lassen.

Frank Raudszus

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