Volker Ullrich: „Acht Tage im Mai“

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Der Titel dieses Buches suggeriert frühlingshafte Leichtigkeit – wäre da nicht der kontrastierende Untertitel „Die letzte Woche des Dritten Reiches“, der erst die richtige Assoziation – „der achte Mai“ – weckt. Volker Ullrich lässt in diesem Buch noch einmal am Beispiel der letzten Woche des Unrechtregimes die gesamte Zeit von zwölf Jahren wie in einem Brennglas verdichtet Revue passieren, ohne deswegen explizit auf diese angeblichen tausend Jahre zurückkommen zu müssen. Er setzt die Kenntnis dieser Epoche zu Recht voraus und beschäftigt sich intensiv mit diesen letzten acht Tagen. Der eigentliche Kunstgriff dieses Buches besteht darin, dass jede Szene implizit auf die zwölf Jahre davor zurückverweist, und sei es nur im Kopf der Leser mit entsprechenden Kenntnissen, und dabei den ganzen Schrecken noch einmal sichtbar werden lässt.

Es beginnt mit Hitlers Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei am 30. April 1945, der dann zeitgleich Goebbels Familienselbstmord und die Auflösung der Bunkergemeinschaft nach sich zieht. Dabei erschüttert, wie die Umgebung noch nach Hitlers Tod auf ihn fixiert bleibt und alle posthumen Weisungen gewissenhaft ausführt. Keine Erleichterung, kein Schuldbekenntnis – nur Erwartung der persönlichen Apokalypse.

Anschließend geht Ullrich Tag für Tag vor und konzentriert sich an jedem Tag auf ein ganz besonderes Ereignis. Da sind einmal die letzten unrealistischen Vorstellungen der Hitlernachfolger – Dönitz und andere -, die in blanker Selbstüberschätzung glauben, die Siegermächte gegeneinander ausspielen zu können und in buchstäblich letzter Sekunde mit den West-Alliierten zusammen als „Siegermacht“ die Rote Armee vertreiben zu können. Dabei verzichtet Ullrich auf jegliche militärischen, politischen oder gar moralischen Bewertungen und lässt die Situation und die Handlungen für sich sprechen. Man kann nur ungläubig den Kopf schütteln über die totale Abwesenheit jeglicher Selbstkritik angesichts der aussichtslosen militärischen Lage. Zwölf Jahre „Führer“- und „Herrenvolk“-Propaganda haben offensichtlich zu einer vollständigen Gehirnwäsche in den höchsten Ämtern geführt – vom Wissen um die unfassbaren Verbrechen ganz zu schweigen.

Ein anderes Thema sind die Todesmärsche der KZ-Insassen, die bei bitterer Kälte durch halb Deutschland führten und zu desaströsen Todesraten und Massakern führten. Daran waren nicht nur SS und KZ-Wachmannschaften, sondern auch willige Bürger beteiligt, die alle KZ-Insassen für Kriminelle hielten, die man wieder einfangen musste, wenn sie flohen. Diese Kapitel sind wegen ihrer nüchternen Grausamkeit besonders schwer zu lesen.

Die Reaktionen der Bevölkerung beschreibt Ullrich als zumindest ambivalent. Ein Volk, das über Jahre auf den Endsieg und die große Zukunft des Herrenvolks unter dem großen Führer eingeschworen war, sah sich plötzlich allein im Leeren sitzen. Man hatte trotz der aussichtslosen Lage gerne an den Endsieg geglaubt und stand jetzt ohne Leitfigur allein vor der Katastrophe. Das führte im besten Fall zu Frustration und Resignation, im schlimmeren zu Wut gegen alle. Auch hier legt Ullrich den Finger in die Wunde, wenn er berichtet, dass viele noch bis zum letzten Augenblick den heldenhaften Widerstand proklamierten, nach dem Einmarsch der Alliierten aber plötzlich schon immer Widerstandskämpfer gewesen waren. Das irritierte nicht nur bekannte Intellektuelle der inneren Emigration wie Erich Kästner, sondern auch alliierte Offiziere, die plötzlich nur noch begeisterte Nazigegner vor sich hatten.

Am Beispiel von Breslau zeigt Ullrich den so fanatischen wie aussichtslosen Durchhaltewillen von Naziführern, die sich dann unmittelbar vor der Zerstörung der zur Festung erklärten Stadt aus dem Staube machten. Das zeichnete übrigens das gesamte Führungspersonal des Dritten Reiches aus. Viele hatten sich bereits vorher neue Identitäten zugelegt und versuchten, sich der Entdeckung und einem Prozess zu entziehen. Und diejenigen, derer man habhaft werden konnten, etwa Herrmann Göring, führten noch als Gefangene das große Wort und hielten Hof. Jeder hoffte, mit seinen Insiderkenntnisse bei den Alliierten auf Kosten der ehemaligen Komplizen punkten zu können.

Das geradezu absurde Spektakel um die bedingungslose Kapitulation bis hin zum 8. Mai zeigt den Grad an Realitätsverlust, den die Regierung der letzten Tage um Dönitz an den Tag legte. Als Leser des 21. Jahrhundert kann man sich nur fragen, warum die Alliierten das so lange mitgemacht hatten, bis sie schließlich am 23. Mail das Luftschloss der Illusionen in die Luft sprengten und alle noch lebenden Führungsfiguren als kriminelle verhafteten.

Doch Ullrich hat auch Positives zu berichten, so die Entdeckung und Sicherstellung der in einem österreichischen Salzbergwerg versteckten Raubkunst des Dritten Reiches, die Hitler nach seinem Sieg in einem eigenen Museum hatte ausstellen wollen.

Das Buch liest sich gerade wegen des nüchternen Stils spannend wie ein Kriminalroman, weil hier das Ereignis und nicht seine ethische Bewertung im Mittelpunkt steht. Letztere ist mittlerweile gesichert und ergibt sich auch zwingend aus den Fakten und muss deshalb nicht mit Pathos nachgeliefert werden.

Das Buch kommt gerade richtig zum Aufschwung der AfD und der zunehmenden Relativierung des Dritten Reiches in rechten Kreisen und sollte deshalb Pflichtlektüre in Schulen und anderen Institutionen werden. Denn nicht weit von uns werden dieselben Töne nationaler Größe und der Aggression gegen andere, „minderwertige“ Länder wieder lauter und sogar mit militärischen Mitteln verbreitet.

Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 317 Seiten und kostet 16 Euro.

Frank Raudszus

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