Wogende Gedankenschmerzen

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Bereits vor zwölf Jahren stand Georg Büchners Novelle „Lenz“ auf dem Programm des Staatstheaters Darmstadt, damals als Inszenierung von Wolfgang Rihms gleichnamiger Kammeroper, und hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Jetzt hat Rebekka Bangerter die Erzählung als Schauspiel auf die Bühne der Kammerspiele gebracht. Hier stock ich schon – denn eigentlich kann man in diesem Fall nicht von Schauspiel sprechen, vielmehr ist es eine Sprachperformance, die neunzig Minuten lang zwischen Erzählung, Reflexion und Darstellung changiert, bewusst die Grenzen der einzelnen Darstellungsarten verwischt und letztlich eine dem Inhalt von Büchners Novelle ähnelnde Atmosphäre schafft.

Stefan Schuster und Aleksandra Kienitz

Jakob Michael Reinhold Lenz durchlebt während seines Aufenthalts bei dem Pfarrer Oberlin tief in der Berglandschaft periodisch aufwallende Anfälle einer Geisteskranlkheit, die wir heute als Schizophrenie bezeichnen würden. Büchner schildert auf der Basis von Lenz´ eigenen Aufzeichnungen diese Anfälle als ein Verweben aller äußeren und inneren Abläufe, die dem Betroffenen letztlich jegliches Unterscheidungsvermögen rauben. Über lange Strecken seines Aufenthalts besteht sein Dasein nur aus einem pulsierenden Aufwallen von Gedanken, Ahnungen und Phantasien, die alle Grenzen zwischen den einzelnen Ebenen des Lebens verwischen und damit Realität und Vorstellungen zu einem nicht mehr entwirrbaren Konglomerat vermischen.

Rebekka Bangerter hat diese irrationale Situation kongenial für die Bühne umgesetzt. Dazu gehört, dass sie von von vornherein den Begriff der „Bühne“ in Frage stellt, indem sie eben diese Bühne durch einen in den Kammerspielen ungewohnten schwarzen Vorhang versperrt. Schon das könnte man als Metapher für Lenz´ das reale Leben verhüllende Krankheit verstehen. Wenn sich dann dieser Vorhang öffnet, schaut man auf eine kahle, diese Metaphorik fortsetzende Bühne. Alexandra Kienitz und Stefan Schuster eröffnen den Abend aus dem Hintergrund des Zuschauerraums mit einer gleitenden Mischung aus direkter Publikumsansprache, Vortrag des Novellentextes und gesprochenen Passagen der Protagonisten. Von Beginn an herrscht hier eine gezielte Auflösung der klassischen drei Ebenen des Theaters: die – stets vorhandene – Selbstinszenierung der Darsteller einschließlich Anspielen des Publikums, die Lesung aus der auktorialen Sicht und die darstellerische Nachstellung der vom Autor beschriebenen Handlung. Ensemble und Publikum wandern gemeinsam durch Büchners Novelle wie dessen Protagonist durchs Gebirge und durchlaufen dabei permanent die Grenzen dieser drei Ebenen.

Aleksandra Kienitz

Wenn es dann zu Lenz´ geradezu wallenden Ausbrüchen kommt, finden diese ihre optische Entsprechung in einer bühnenfüllenden transparenten Plastikfolie, die von zwei Windmaschinen aufgeblasen wird und dabei auf menschliche Höhe ansteigt. Schuster und Kienitz bringen dann die bereits gemächlich vor sich hin wallende Blase durch buchstäbliches Einschreiten in weitere Wallungen und zitieren dabei die seelischen Aufwallungen des Protagonisten. Dabei verzichten sie jedoch auf jegliches Pathos und tragen die Texte eher im zurückhaltenden Seminarstil vor. Die Wirkung des Textes entfaltet sich durch seinen Inhalt, nicht durch einen exaltierten Vortrag.

Und wenn dann unvermutet ein Kind in diese Blasenlandschaft tritt, ist das kein mehr oder minder origineller Regie-Gag, sondern ein dramaturgischer Hinweis auf die weitere Handlung. Denn Lenz erlebt beim Anblick eines toten Kindes in einem Bergdorf einen weiteren Schub seiner Krankheit, und so verweist das spätere, scheinbar hilflose Warten der beiden Hauptdarsteller auf eben dieses Kind nicht etwa – wie suggeriert wird – auf eine Panne in der Aufführung, sondern auf die Hilflosigkeit beim unerwarteten Verschwinden eines Menschen. Auch hier wieder eine geschickte Vermischung der Ebenen bis hin zur gewollten Irritation.

Schuster und Kienitz

Zwischendurch versagt dann auch die Stimme ihren Dienst, wenn Textfetzen wie Menetekel auf der Außenseite der Plastikblase erscheinen, wozu die Darsteller stumm suchend in der Blase hin und her gehen. Man kann sich zu jeder dieser Handlungselemente – wenn man sie denn so nennen will – eine Situation der Hauptperson vorstellen, eben weil die Inszenierung das Publikum in gewisser Weise vor die gleiche Situation stellt wie die Krankheit den von ihr Betroffenen. Sie greift unmittelbar ins Innere ein und schafft existenzielles Unbehagen, das jedoch beim Publikum dank des rationalen Umgebungswissens in Grenzen gehalten wird.

Stefan Schuster und Alexandra Kienitz versuchen jedoch permanent, das Publikum durch Direktansprache aus dieser Beobachtungshaltung zu locken und in eine kleine „Mitmach“-Falle zu locken. Ziel dabei ist offensichtlich, die Selbstsicherheit des rationalen Theaterbesucher zu erschüttern und damit einen kleinen Einblick in die Seelenwelt des Jakob Lenz zu ermöglichen. Das gelingt ihnen über lange Strecken insofern, als sie eine unwirkliche, verunsichernde Atmosphäre schaffen, die jedoch nie zum Selbstzweck entartet, sondern sich stets am Text von Büchners Novelle orientiert. Dadurch besteht auch keinen Augenblick lang die Gefahr vordergründiger oder gar platter Effekthascherei. Der einzige Scherz in dieser Richtung liegt in Stefan Schusters Frage an das beim Schlussbeifall wieder erscheinende Kind: „Wo warst Du denn?“.

Das Publikum zeigte von dieser Aufführung sehr angetan und spendete kräftigen Beifall.

Frank Raudszus

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