Christian Spiering: „Das seltsamste Teilchen der Welt“

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Dieses Buch ist im Grunde genommen für jeden interessierten, aber „normalen“ Leser eine Zumutung, vermittelt es doch einen lebendigen Eindruck von außergewöhnlich begabten und motivierten Menschen, die nicht nur in ihrem beruflichen Wirkungsumfeld Besonderes geleistet haben, sondern oftmals auch auf anderen Gebieten wie Sport – etwa Tennis – oder Musik – zum Beispiel Klavierspielen – geglänzt haben. Da fällt es schwer, das „N“-Gefühl zu unterdrücken und sich einfach einzugestehen, dass es diese herausragenden Exemplare unserer Gattung eben gibt – und sich darüber zu freuen.

Doch natürlich geht es in diesem Buch nicht nur um die Begabungen dieser Menschen, sondern auch um einen Gegenstand, an dem sie diese beweisen konnten. Das ist in diesem Fall die Teilchenphysik. Wer nicht gerade Physik studiert hat, sollte jedoch zumindest wissen, dass die Materie aus Molekülen und diese wieder aus den Atomen der unterschiedlichen Elemente besteht, angefangen bei Wasserstoff und noch nicht bei Uran endend. Dabei besteht so ein Atom aus einem oder mehreren – positiv geladenen Protonen, neutralen Neutronen und negativ geladenen Elektronen.

Soweit das Schulwissen. Der Autor, selber Kernphysiker, beschreibt in diesem Buch die Entdeckung weiterer Teilchen, die das überschaubare Atom-Modell – denn ein solches ist es nur – zu einer wahren Büchse der Teilchen-Pandora aufblähen. Dabei stellt er die Protagonisten der Forschung in den Vordergrund, ohne deswegen den fachlichen Teil zu marginalisieren. Allerdings hat er von vornherein auf eine Fachpublikation verzichtet, da die Zielgruppe hierfür wohl zu klein wäre und letztlich auf Physiker beschränkt bliebe.

Er beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts, als u.a. Marie Curie die radioaktiven Substanzen und deren Zerfall entdeckt. In Deutschland beschäftigt sich Lise Meitner mit diesem Phänomen und entdeckt dabei eine Unstimmigkeit bezüglich der Energie- und Impulserhaltung. Ihr Leben lang bleibt sie dieser Diskrepanz auf der Spur, wird das Rätsel aber nicht lösen können. Nur die „Erfindung“ eines winzigen, elektrisch neutralen Teilchens (< Masse des Elektrons) führt zur Lösung der Gleichung, und so erhält dieses von vielen als dubios angesehene Teilchen anfangs die inoffizielle Bezeichnung „Neutron“. Als dann aber das neutrale Pendant zum Proton entdeckt wird und gleich den offiziellen Namen „Neutron“ erhält. wandelt sich das chimärenhafte Teilchen in das „Neutrino“.

Von nun an jagen verschiedene Gruppen herausragender Physiker in mehreren Ländern dieses geheimnisvolle Teilchen, das nach theoretischen Berechnungen millionen- und milliardenhaft durch die irdische Materie und damit auch die menschlichen Körper schießt, ohne irgendwelche Reaktionen hervorzurufen. Spiering beschreibt den Ideenreichtum und die Besessenheit einer ganzen Reihe erstklassiger Forscher, dieses Teilchen nachzuweisen.

Wenn man die Größe und die Neutralität dieses Teilchen betrachtet, ist bei den großen Abständen der Partikel selbst innerhalb der Atome ein direkter Zusammenstoß höchst unwahrscheinlich. Da musste man halt besonders große Volumina an reaktionsfreudigen Chemikalien bereitstellen, um dann doch die ein oder andere Reaktion feststellen zu können. Und als man endlich solche Zusammenstöße registrierte, hatten die Theoretiker bereits eine ganze Reihe anderer Gründe für diese Reaktionen entwickelt. Es war also ein Wettrennen zwischen den Experimentalwissenschaftlern und den ihnen aus besten Absichten entgegenarbeitenden Theoretikern.

Anhand der handelnden Personen beschreibt Spiering den zähen aber stetigen Fortschritt. Hatte der geniale Österreicher Wolfgang Pauli noch an dem Nachweis des Neutrinos scharfzüngig gezweifelt, kamen seine zeitlichen Nachfolger der Lösung immer näher. Dabei lernt man als Leser Ausnahmepersönlichkeiten wie die bereits erwähnten Lise Meitner (1878-1968) und Wolfgang Pauli (1900-1958), den Italiener Bruno Pontecorvo (1913-1993). die Amerikaner Fred Reines (1918-1998) und John Bahcall (1934-2005) sowie den Japaner Masatoshi Koshiba (1926-2020) kennen, die alle an der Entdeckung des Neutrinos maßgeblich beteiligt waren. Dabei haben einige, wie Bahcall und Koshiba, den Nobelpreis erhalten und andere, besonders Fred Reines, zu Unrecht nie.

Spiering schildert Leben und Arbeit dieser Protagonisten anschaulich und verknüpft die Geschichten fast so spannend wie in einem guten Krimi. Man leidet als Leser bei Fehlschlägen oder verpassten Preisen mit ihnen mit und erlebt die Befriedigung, ja: das Triumphgefühl mit, wenn dann plötzlich, zuweilen unerwartet, die große Bestätigung eintrifft. Man muss sich vorstellen, wie diese Wissenschaftler jahrzehntelang einer Chimäre hinterherjagten und dabei oftmals hinter vorgehaltener Hand belächelt wurden. Es wäre töricht anzunehmen, sie hätten von dieser spöttischen Skepsis nichts bemerkt und nichtsahnend „weitergewerkelt“. Sie glaubten an ihre Theorie und hatten am Ende recht. Dabei zeigt Spiering auch ihre menschlichen Seiten wie etwa Humor, Schlagfertigkeit, Sportbegeisterung oder Geselligkeit und zeigt, dass man – nicht jeder! – bei dieser mehr als anspruchsvollen Tätigkeit noch ein ausgefülltes Familienleben führen konnte.

Am Ende des Buches fasst Spiering für fachlich interessierte Leser die physikalischen Erkenntnisse zum Neutrino noch einmal zusammen und zeigt, wie leicht man bei der Interpretation von Reaktionen in die falsche Richtung geraten konnte, denn fast mit jedem Fortschritt entdeckte man auch neue Varianten des Neutrinos, die natürlich andere Charakteristiken aufwiesen. „Moving Target“ nennt man dieses Phänomen in den Naturwissenschaften, und es macht die wissenschaftliche Arbeit nicht gerade leichter.

Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen, umfasst 330 Seiten und kostet 28 Euro.

Frank Raudszus

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