Dramatische Dichte im Graben und auf der Bühne

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Der tschechische Komponist Leoš Janácek entnahm das Libretto seiner Oper „Jenufa“ einem sozialen Drama der Schriftstellerin Gabriela Preissova, in dem diese in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die geistig-moralische Enge mährischer Dörfer beschrieb. Das Stück ist in seiner Direktheit und Kompromisslosigkeit geradezu verstörend: die junge Jenufa steht zwischen den Männern Stewa und Laca. Sie liebt den ungestümen und labilen Stewa und ist sogar schwanger von ihm, doch Laca wirbt hartnäckig und verzweifelt um sie. Ihre Ziehmutter Buryia versteckt Jenufa und lässt sie ihr Kind heimlich zur Welt bringen. Als Stewa aber weder von Jenufa noch von dem Kind etwas wissen will, ist für Buryia Jenufas Schande besiegelt. Um Jenufas sozialen Absturz zu verhindern, ertränkt Buryia das Kleine und erzählt Jenufa eine Geschichte von Kindbettfieber und Kindstod. Jenufa gibt in ihrer Verzweiflung Laca das Ja-Wort, doch am Hochzeitstag wird das tote Kind gefunden und Buryia gesteht alles. Obwohl Jenufa wegen der Schande auf die Ehe mit Laca verzichtet, bleibt dieser bei ihr. So endet das Stück zumindest mit einem Hoffnungsschimmer.

Katharina Persicke, Mickael Spadaccini, Opernchor

Die soziale Enge und gnadenlose Repression stehen im Mittelpunkt dieses Dramas. Der soziale Druck der Dorfgemeinschaft ist gegenüber einer unehelich Schwangeren derart hoch, dass ihr künftiges Leben – und wahrscheinlich auch das des Kindes – ein einziger Spießrutenlauf sein wird. Deshalb tötet die Ziehmutter das Kind auch nicht aus Hass auf das Kind, die Mutter oder den Vater sondern aus Liebe zu ihrer Ziehtochter, der sie den sozialen Absturz ersparen will. Konsequenterweise trägt sie schwer an ihrer Tat und ist regelrecht erleichtert, als alles herauskommt. Es gibt in diesem Stück daher zwei große Leidensfiguren: Jenufa und Buryia. Beide werden mit einem gesellschaftlichen Druck konfrontiert, dem sie nicht standhalten können und der sie letztlich zerstört. Denn auch Jenufas Leben ist durch den Verlust des Kindes und des Geliebten zerstört, auch wenn sie in Laca einen neuen Partner findet. Für sie ist diese Vernunftheirat nur der letzte gesellschaftliche Strohhalm, auch wenn sich am Schluss ein Gelingen andeutet.

Die Männer sind in diesem Stück zwar die Täter, aber letztlich auch nur Opfer der Gesellschaft. Laca fügt Jenufa in einem Eifersuchtsanfall eine entstellende Gesichtswunde bei, und Stewa mag sich nicht der Verantwortung für die entstellte Jenufa und das unehelich geborene Kind stellen. Laca leidet unter der Zurücksetzung durch Jenufa und dem Spott der Dorfbewohner, Stewa unter der drohenden Ausgrenzung wegen des unehelichen Kindes. Sie reagieren auf den sozialen Druck reflexhaft, ohne die fatalen Folgen zu bedenken.

Katharina Persicke als Jenufa

Janácek hat diese moralisch hoch aufgeladene Handlung mit einer spannungsgeladenen Musik vertont, die den Druck der Gesellschaft und die Zerrissenheit der Hauptfiguren deutlich zum Ausdruck bringt. Der Gesang folgt der seit Wagner üblichen Regel, die gesprochene Sprache direkt umzusetzen und auf jegliche strophische Form zu verzichten. Die Gesangsmelodie folgt in erster Linie der Sprachmelodie, wie sie der jeweilige Text aus seiner inneren Logik normalerweise hervorbringt. Dabei werden die Affekte verstärkt und zugespitzt, da das Musikdrama ja das Wesentliche einer Situation sowie ihre seelischen Folgen zum Ausdruck bringen will, und Satzenden werden bisweilen zwecks Intensivierung ein oder zwei Mal wiederholt. Darüber hinaus spielt das Orchester eine wesentlich eigenständigere Rolle als in klassischen oder auch noch frühromantischen Opern, in denen die brillanten Arien eine wesentlich größere Rolle spielten. Das Orchester hat in dieser Oper die Aufgabe, die jeweilige Situation auch dann musikalisch auszudrücken, wenn keine unmittelbaren Dialoge vorliegen. Auch kürzere Pausen füllt das Orchester mit einer eigenen Musik hoher Dichte und Spannung und verleiht dem Geschehen auf der Bühne dadurch eine gesteigerte Ausdruckskraft. Sänger und Orchester gehen hier eine gelungene Symbiose ein und schaffen gemeinsam eine Atmosphäre hohen Drucks und einer auswegloser Zerrissenheit.

Iris Vermillion als ZIehmutter Buryia

Regisseur Dirk Schmeding hat diese Handlung in ein überzeugendes Regiekonzept umgesetzt. Das beginnt bereits mit dem Bühnenbild von Martina Segna. Auf er nach hinten ansteigenden Bühne dominiert ein großer, starrer Rahmen aus (Theater-)Beton. Dieser Betonrahmen steht für die unnachgiebigen, genau abgezirkelten Moralvorstellungen der Dorfgesellschaft und bleibt das prägende Bühnenelement bis zum Ende. Die dörfliche Umgebung spiegeln Strohballen oder übergroße Strohpuppen innerhalb dieses Betonrahmens wider. Wohlgemerkt: Strohpuppen und -ballen sind ebenfalls im Viereck gefangen und runden die Metapher damit ab. Die Kostüme von Frank Lichtenberg versetzen die Handlung in ein ländliches Ambiente des späten 19. Jahrhunderts und spielen sogar ein wenig mit Trachtenkleidung. Gerade bei den älteren Frauen unterstreichen die voluminösen, von Kopf bis Fuß alles verhüllenden Kleider noch den Eindruck der Enge und Erstarrung. Dagegen trägt die Buryia – Mörderin des Kindes – eine fast moderne, graue Kombination und deutet damit ihre innere Opposition zu den altbackenen Moralvorstellungen ihrer Mitbürger an. Doch weiß sie als intelligente Frau genau, dass sie die Macht dieser Vorstellungen nicht brechen kann.

Schmeding stellt dann auch die Figur der Buryia in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Zwar tritt sie erst im zweiten Akt auf, doch von diesem Moment an prägt sie das Bühnengeschehen. Die Angst um die Zukunft der geliebten Ziehtochter, der Entschluss zur schrecklichen Tat und die lange Reue kennzeichnen diese Figur, die Iris Vermillion – als Krankheitsvertretung kurzfristig eingesprungen – in all ihren Facetten überzeugend darstellt. Diese Frau ist sehr stark und folgt nur ihren Überzeugungen, zerbricht aber am Schluss an ihrer Einsamkeit und ihrer schrecklichen Tat. Dagegen steht im ersten Akt Jenufa (Katharina Persicke) im Vordergrund. Schmeding lässt sie und die beiden Männer – Stewa und Laca – meist an der Rampe spielen, um die Leichtigkeit aber auch die Unsicherheiten und die (Liebes-)Leiden der jungen Leute zu verdeutlichen. Hier können Katharina Persicke. Marco Jentzsch (Laca) und  Ewandro Stenzowski (ebenfalls als Stewa kurzfristig eingesprungen) sich zu einem typischen Dreiecksverhältnis entfalten und alle Spielarten von Liebe und Eifersucht durchdeklinieren. Und an diesem explosiven Dreieck zeigt sich, wie weit die starren Moralvorstellungen der Dorfbevölkerung in das Leben junger Menschen hineinregieren.

Marco Jentzsch (Laca) und Katharina Persicke (Jenufa)

Neben diesen Hauptrollen verleihen noch einige starke Nebenrollen der Inszenierung Kontur. Thomas Mehnert spielt einen Altgesellen in blutiger Metzgertracht und prägt mit seinem vollen Bass so manche Szene, und Anja Bildstein gibt eine sybillinische Großmutter. Für ein wenig Humor sorgen Joyce de Souza als Stewas ausgelassene neue Freundin Karolka sowie Oleksandr Prytolyuk als steifer und ein wenig desorientierter Dorfrichter. Und zu Jenufas Hochzeit gratuliert der Chor in mährischer(?) Tracht mit ausgelassenem Gesang und Tanz. Überhaupt spielt der Chor in dieser Inszenierung eine wichtige Rolle und ist nahtlos in das Regiekonzept integriert. Seine Auftritte als Dorfbevölkerung wirken nie wie aufgesetzte Zwischenspiele sondern entwickeln sich organisch aus der jeweiligen Szene. Die Mitglieder kommen mal einzeln nacheinander und dann wieder als Gruppe auf die Bühne, gerade wie die Situation es verlangt. Daher fühlt man sich fast wie in einem echten Dorf und nicht bei einer Theateraufführung über das Dorfleben. Das lässt auch die ambivalenten Reaktionen der Dorfbewohner auf die Ereignisse eine eigene Brisanz entwickeln, und in bestimmten Augenblicken köchelt die Volksseele bis an den Rand der Selbstjustiz.

Am Pult des Orchesters sorgt Generalmusidirektor Will Humburg persönlich für den richtigen Klang zu jeder Situation. In kritischen Momenten schärft er die Klangfarben bis an den Rand der Dissonanz, um in lyrischen Augenblicken auch einmal den warmen und weichen Klängen eine Chance zu geben. Doch das Scharfe, Zerrissene überwiegt über lange Strecken, ist doch auch die Handlung von dieser Befindlichkeit geprägt. Musikalische Höhepunkte sind zweifellos die Auftritte der Buryia im zweiten und dritten Akt, sei es bei der Kindstötung, sei es bei den Gewissensqualen danach oder beim großen Geständnis am Ende. In diesen Szenen finden sich eine starke Sängerin und ein überzeugendes Orchester auf Augenhöhe und liefern fesselnde Interpretationen der jeweiligen Situation, die ihren Eindruck auf das Publikum nicht verfehlen.

Die Zuschauer zeigten sich entsprechend beeindruckt und spendeten kräftigen Beifall.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Martin Sigmund

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