L.P.Hartley: „Ein Sommer in Brandham Hall“

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Der Roman „Ein Sommer in Brandham Hall“ von L.P. Hartley erschien im englischen Original erstmals 1953 unter dem Titel „The Go-Between“. Es gab inzwischen verschiedene deutsche Auflagen, aber der Roman geriet in Vergessenheit. Jetzt ist er im Eisele Verlag neu aufgelegt worden, und es hat sich gelohnt.


„Ein Sommer in Brandham Hall“ erzählt aus der Erinnerung des mittlerweile über 60-jährigen Leo Colston seine Erlebnisse als Feriengast der Familie Maudsley im Jahre 1900. Der zwölf-jährige Leo wird als Freund des Familien-Nachzüglers Marcus auf das großbürgerliche Anwesen „Brandham Hall“ eingeladen. Er selbst stammt aus einer grundsoliden, kleinbürgerlichen Familie, die Mutter ist verwitwet und hat nur sehr begrenzte Geldmittel zur Verfügung.


Für Leo ist der Aufenthalt in Brandham Hall die Begegnung mit einer ihm zunächst völlig fremden Welt, in der Konventionen, gepflegte Konversation und ritueller Tagesablauf den Alltag prägen. Da es Leo und Marcus von der Erwachsenen-Gesellschaft erlaubt ist, in ihrer eigenen Kinderwelt zu leben, kann sich Leo schnell eingewöhnen.

Als Marcus erkrankt und zunächst der Verdacht auf Masern besteht, wird Leo aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausquartiert und bleibt für die nächsten Wochen mehr oder weniger sich selbst überlassen. Er nutzt die Gelegenheit, um auf dem weitläufigen Anwesen herumzustreifen. Ihn zieht es besonders zu dem nahegelegenen Bauernhof, wo er mit kindlicher Freude auf die Strohballen klettert, um dann mit einem Schwung hinunterzurutschen. Dabei wird er von dem Farmer Ted erwischt und zunächst hart angefahren. Als er sich jedoch als Gast der Maudleys zu erkennen gibt, wandelt sich Teds Strenge in großmütige Freundlichkeit.

Für Leo hat das einschneidende Folgen. Er wird von Ted und der 18-jährigen Maudsley-Tochter Marian als Briefbote benutzt. In seiner kindlichen Naivität hält er diese Briefe für wichtige geschäftliche Informationen, die aus irgendeinem Grunde geheim gehalten werden müssen. Er idealisiert Marian, die als einzige der Erwachsenen in Brandham Hall an ihm Interesse zeigt und ihn vor dem Spott der anderen wegen seiner gesellschaftlichen Unbeholfenheit in Schutz nimmt. Für ihn ist sie die Schönste und Liebenswürdigste von allen.


Den ersten Bruch in seiner kindlich-naiven Weltsicht erfährt er, als er erkennen muss, dass es sich zwischen Ted und Marian um ein geheimes Liebesverhältnis handelt. Für ihn wird Marians geheimes Treiben geradezu unverständlich, als sie sich mit Lord Trimingham, dem Besitzer des Anwesens, verlobt. Erst zögerlich, aber dann mit immer größerer Gewissheit erkennt er, dass Marians Freundlichkeiten nur ihrem eigenen Nutzen dienten, um sich seiner ungefährdet als „Postboten“ bedienen zu können.

Zu ersten Mal in seinem Leben erfährt er einen inneren Konflikt, da er sowohl Ted als auch Lord Trimingham bewundert und beide mag. In völliger Überschätzung seiner Rolle glaubt er, dem Spiel ein Ende setzen zu können, indem er sich dem Briefe-Austausch widersetzt.
Das allerdings ist der Anfang vom Ende. Genau an seinem 13. Geburtstag, der von der häuslichen Gesellschaft groß begangen werden soll und zu dem ihn viele Geschenke der Familie, insbesondere von Marian, erwarten, fliegt alles auf, auch seine Rolle in dem Spiel. Leo hat einen psychischen Zusammenbruch, der das Ende der Kindheit und den Eintritt in das Jugendalter markiert.

Ein Prolog und ein Epilog umschließen die eigentliche Erzählung.
Der Prolog beginnt mit einer Aufräumarbeit des alternden Leo, bei dem ihm sein Tagebuch aus dem Jahre 1900 in die Hände fällt. Seine Erinnerung daran war nahezu völlig gelöscht, erst jetzt beim Öffnen des Buche erinnert er sich an seine Euphorie über das neue Jahrhundert und die damit verbundenen Erwartungen. Das Tagebuch bricht plötzlich ab, die traumatischen Ereignisse von Brandham Hall enthält es nicht. Sie waren auch in seiner Erinnerung völlig gelöscht.

Der Epilog ist Leos melancholische Reflexion über die Bedeutung, die die Ereignisse von Brandham Hall für sein weiteres Leben gehabt haben. Er macht sie dafür verantwortlich, dass er im Leben allein geblieben ist und dass er nie mehr wirklich Vertrauen zu anderen Menschen entwickeln konnte. Erst ein nochmaliger Besuch von Brandham Hall nach 50 Jahren lässt ihn endgültig mit den Ereignissen abschließen.

Hartley erzählt diesen Prozess der Initiation ins Erwachsenenleben mit einer Eindringlichkeit und Einfühlung in die Seele des Kindes, das – ähnlich wie Holden Caulfield in „Der Fänger im Roggen“ von Jerome D. Salinger – an der Abbruchkante der Kindheit steht. Hartley verknüpft die Schilderung der Erlebnisse aus der Kindersicht mit dem Kommentar des sich erinnernden Erwachsenen, der die oft kindlich-magische Sicht des 12-jährigen mit der realistischen Sicht des Erwachsenen relativiert.

Leos kindliche Weltsicht ist zum einen geprägt durch die behütende Erziehung der Mutter, zum anderen durch das Internatsleben, durch das er nach dem Tod des Vaters geprägt wird. Hier erlernt er die Codes, denen ein Schuljunge verpflichtet ist. Man hebt sich nicht aus der Gemeinschaft hervor, wenn man nicht massive Bestrafung durch die Gruppe erfahren will. Und man kann ein Geheimnis bewahren. Dieser Ehrenkodex, den Leo verinnerlicht hat, macht ihn so nützlich für Marians Schlachtplan.

Gleichzeitig gibt Hartley ein satirisch-kritisches Bild britischer Gepflogenheiten der besseren Gesellschaft, deren schönen Schein und insbesondere deren arrogantes Klassenbewusstsein er durch die Sicht des Kindes entlarvt.
Hartley erzählt in einer anspruchsvollen Sprache, aber mit einem Erzählfluss, der die Leser mitreißt. Eine besondere Herausforderung bieten zahlreiche literarische Verweise und Bilder, die erfahrene Leser mit Freude wiedererkennen oder aufzudecken versuchen werden.

Eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre.

Das Buch ist 2019 im Eisele Verlag wieder aufgelegt worden, es hat 400 Seiten und kostet 22 Euro.


Elke Trost

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