Ein gelungenes Experiment

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Mozarts „Requiem“, seine letzte, unvollendete Komposition, ist eines der geheimnisumwittertsten Kunstwerke der Weltgeschichte. Die nächtliche, geradezu klandestine Auftragsvergabe durch einen Vermummten und Mozarts plötzlicher Tod während der Arbeit an dem Requiem haben schon bald zu abenteuerlichen Verschwörungstheorien geführt bis hin zum angeblichen Giftmord durch seinen Konkurrenten Salieri. Obwohl sich diese Theorien im Laufe der Zeit alle verflüchtigt haben und nur den „Zufall“ eines natürlichen Todes übrig ließen, haftet diesem Werk durch seinen fragmentarischen Charakter immer noch die Aura des Geheimnisses an. Schon kurz nach Mozarts Tod hat sein Schüler Franz Xaver Süßmayr das Requiem – angeblich nach flüchtigen Aufzeichnungen Mozarts – fertig gestellt. Doch die Fachwelt betrachtet nur die ersten beiden Teile bis zum „Lacrimosa“ als authentisch und hegt Zweifel an der künstlerischen Qualität der Ergänzungen Süßmayrs, ganz abgesehen davon, dass für viele Mozart-Verehrer die „Fertigstellung“ eines seiner Werke durch andere sowieso an Blasphemie grenzt. Manche Orchester, so etwa beim Staatstheater Darmstadt im März 2017, spielen deshalb dieses Werk nur bis zu dem Punkt in der aufsteigenden Sequenz des „Lacrimosa“, an dem der nahende Tod Mozart die Feder aus der Hand nahm.

Concerto Köln und Chorwerk Ruhr beim Rheingau Musik Festival im Kloster Eberbach
(c) Christian Palm

Der Komponist Michael Ostrzyga hat sich lange Jahre aus verschiedenen Perspektiven mit Mozarts „Requiem“ beschäftigt und schließlich das Experiment gewagt, eine eigene Fortsetzung zu komponieren, bei der er vor allem den musikalischen Kontext der Zeit sowie Mozarts Stil in gerade dieser Musikgattung berücksichtigte. Sein Ziel dabei war, dass seine Version „einer stilistischen Prüfung standhält“. Das Rheingau Musik Festival präsentierte diese Version am 15. August in der Basilika des Klosters Eberbach mit dem „Concerto Köln“ und dem „Chorwerk Ruhr“ unter der Leitung von Florian Helgath.

Da das Requiem nur knapp eine Stunde dauert, hat Florian Helgath diesem Werk noch zwei kurze Kompositionen des gleichen Genres vorangestellt: Ignaz von Seyfrieds „Libera me“, dass dieser als Ergänzung zum „Requiem“ für Beethovens Beerdigung im Jahr 1827 schrieb, und „Elegischer Gesang für Chor und Streichorchester“ op. 118, das Beethoven selbst anlässlich des Todes der Ehefrau eines Mäzens schrieb.

Seyfrieds Werk wird „a-capella“ von einem reinen Männerchor vorgetragen. Der verhaltene Trauergesang erklang aus dem rückwärtigen Teil der Basilika über die Köpfe des zahlreich erschienen Publikums hinweg und schuf die richtige Einstimmung auf die Trauermesse. Anschließend sang der vollständige Chor zur Begleitung des Orchesters die vier Abschiedsverse aus Beethovens Chorwerk für die jung gestorbene Frau. Durch die Erweiterung des Chors und die Orchesterbegleitung ergab sich ein wesentlich reichhaltigeres Klangvolumen, das die Sinne der Zuhörer in wenigen Minuten für das kommende Requiem schärfte.

Über die Wirkung vor allem der Erweiterungen Ostrzygas lässt sich an dieser Stelle nur aus der Sicht eines engagierten Laien berichten. Auf jeden Fall trugen sowohl die Gesangssolisten – Gabriela Scherer (Sopran), Anke Vondung (Alt), Tilman Lichdi (Tenor) und Tobias Berndt (Bariton) – als auch der Chor und das Orchester mit ihrer perfekten Abstimmung und einer von musikalischem Ernst durchdrungenen Interpretation dazu bei, das Gesamtwerk in sich geschlossen und homogen wirken zu lassen. Schon der „Introitus“ ist mit seinem machtvoll-düsteren Beginn unverwechselbarer Mozart, und auch die ersten Takte des „Lacrimosa“ verströmen geradezu musikalische Genialität. Vielleicht überinterpretiert man die Wirkung dieses Werkes auch deshalb, weil man weiß, dass es Mozarts letztes war und der Tod eine Fortsetzung verhinderte. Solche Umstände sprechen ein Werk nachträglich leicht heilig. Dennoch kann man sich der Wirkung nicht entziehen.

Anschließend fährt die Musik ohne erkennbaren Bruch fort. Man kann sich leicht vorstellen, dass Mozarts es in dieser Art fortgesetzt hätte, obwohl das Wissen um die „Fremdhilfe“ natürlich stets die Frage aufwirft „Wie hätte Mozart das geschrieben?“. Man hört nach diesem „Lacrimosa“ besonders genau hin und versucht, grundsätzliche Unterschiede zu finden – und findet keine. Die Musik behält die mächtige Strömung des Beginn bei, und sowohl die Chor- wie auch die Solopartien fallen in keiner Weise ab. Das „Sanctus“ kommt mit dem Brausen des Jüngsten Gerichts daher, und das Agnus Dei strahlt die typische mozartsche Innigkeit aus. Wenn man grundsätzlich die „Fertigstellung“ eines Kunstwerks durch Dritte für legitim hält, dann ist dies ein gelungener Versuch, ein historisches Fragment zu vervollständigen.

Das erfordert natürlich auch ein Ensemble, dass sich den Anforderungen einer durchgehenden Interpretation trotz des Wissens um die doppelte Autorenschaft stellt und voll hinter diesem Werk steht. Bei den Musikern dieser Aufführung war das offensichtlich der Fall, denn sie agierten alle auf höchstem Niveau und mit ausgeprägtem musikalischen Gespür. Die Solisten fanden genau den richtigen Ton zwischen Klage über den Tod und Lobpreisung der himmlichen Mächte, und der Chor glänzte durch Präzision und eine je nach Bedarf voluminöse oder feinsinnige Interpretation.

Das Publikum dankte allen Beteiligten durch kräftigen, anhaltenden Beifall.

Frank Raudszus

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