Vom mythischen Märchen zum Emanzipationsdrama

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Der Mythos vom stolzen Mädchen, das alle Freier abweist und deshalb schließlich – natürlich von den Männern – bestraft und domestiziert wird, zieht sich durch die Märchen aller Epochen, im deutschen Sprachraum im „König Drosselbart“. Dieses von männlichen Angstphantasien dominierte Thema findet sich – in Gestalt der Prinzessin Turandot – auch im chinesischen Legendengut. Hier verlangt die Prinzessin von jedem Freier die Lösung dreier Rätsel. Die Konsequenz heißt Tod oder Ehe. Die Stadtmauer der Stadt zieren bereits zahlreiche Köpfe erfolgloser Bewerber, und auch der aus seinem Heimatland vertriebene Prinz Kalaf verfällt ihr und bewirbt sich trotz flehentlicher Bitten seiner Freunde und sogar des kaiserlichen Vaters der Prinzessin und seiner Berater. Wie in diesen Märchen üblich, beantwortet er die drei Fragen zum allgemeinen Erstaunen richtig, Turandot verweigert ihm jedoch – zutiefst verstört ob der unerwarteten Wendung – ihre Hand und droht sogar mit Selbstmord. Kalaf ist zu einem Kompromiss bereit und stellt Turandot seinerseits das Rätsel seines Namens, den sie bis zum Folgetag nennen soll. Gelingt ihr das, ist er bereit zu sterben, andernfalls muss sie endgültig ihr Jawort geben. Daraufhin beginnt Turandot ein intrigantes Spiel mit Bestechung, Erpressung und sogar angedrohter Folter, um den Namen aus dem Umfeld des Prinzen zu erfahren. In letzter Sekunde gelingt ihr dies dank Verrat, doch Turandot, die von Anfang an Gefallen an dem Prinzen gefunden hat, verzichtet aus freien Stücken auf ihren Preis und gibt dem Prinzen ihre Hand.

Iris Melamed als Turandot

Üblicherweise geht die Interpretation dieses Stoffes – in einem patriarchalischen System – mit einer mehr oder minder deftigen Entlarvung des weiblichen Hochmuts einher, und besonders die Commedia dell’Arte bietet hier vielfältige Möglichkeiten, den falschen und – für Männer – tödlichen Stolz nach Kräften zu diskreditieren und dem so befreienden wie schadenfrohen Gelächter zu überlassen. Das kann jedoch nicht die Absicht des Idealisten Schiller sein, den man nun gewiss nicht als typischen Vertreter eines handfesten Komödiantentums bezeichnen kann. Bei ihm steht zwar auch der Stolz der Prinzessin im Vordergrund, doch durchaus auch ernsthaft zugespitzt auf die tatsächliche Unterdrückung der Frau bis hin zu materiell unterfütterten, von den Vätern verfügten Eheschließungen. Schiller lässt seine Turandot die Verdinglichung der „Ware Frau“ deutlich zum Ausdruck bringen und weckt Verständnis für den unbedingten Willen der Prinzessin, von den Männern in Ruhe gelassen zu werden. Nicht die Sexualität ist ihr Horror, sondern die institutionalisierte Abhängigkeit der Frau vom Manne, und sie hat ihren Widerstand gegen diese Zustände zu einem unerschütterlichen Prinzip vorangetrieben, das kein Mitleid mit den todgeweihten Freiern kennt. Abgesehen von den etwas kruden Konsequenzen dieses „Millionenquiz'“ lässt sich Turandots Haltung bei Friedrich Schiller durchaus nachvollziehen, und auch ihre Intrigen bei der Ausforschung des Namens erscheinen bis zu einem gewissen Grade als legitime Notwehr gegen ein prinzipiell repressives System. Umso mehr kann Schiller dann Turandots Selbstüberwindung am Ende hervorheben, die bei ihm fast mehr einer idealistischen Grundhaltung als der erotischen Attraktion geschuldet scheint. Schillers Helden agieren nicht aus elementaren Emotionen sondern aus innerer Überzeugung.

Leander Lichti (Prinz Kalaf) und Uwe Zerwer (Barak)

Soweit zu Gozzi und Schiller. Doch wie lässt sich dieses doch geradezu nach deftiger Tragikomödie schreiende Plot mit Schillers Sprache und Intention inszenieren? Eine „ernsthafte“ Interpretation verbietet sich von vornherein, würde sie doch immer hart am Abgrund der Lächerlichkeit entlang schrammen. Schillers Verse neigen nun einmal zum Pathos, und das kann angesichts dieses Handlungsgerüsts leicht ins nicht kalkulierbare Gegenteil umschlagen. Bleibt wie immer nur die Groteske, die zwar durch die äußerlichen Attribute der Komik das Pathos entschärft, aber dahinter doch die Wahrheit durchschimmern lässt. Regisseur Axel Richter hat sich daher der alten Tugenden der Commedia dell’Arte erinnert und die Masken in den Mittelpunkt seiner Inszenierung gestellt. In der Commedia dienten diese zur Typisierung der Figuren, denn auf den öffentlichen Plätzen vor einem eher bodenständigen Publikum waren fein ziselierte Charakterstudien chancenlos. So musste die Maske vom ersten Moment an die Rolle der jeweiligen Figur festlegen. Mimik spielte eine untergeordnete Rolle und kam höchstens in grober Form zum Tragen, Gestik und Sprache dominierten die Bühne.

Richter nimmt das Maskenspiel ernst und versieht alle Darsteller mit Vollmasken, die tragenden Rollen – Turandot und Kalaf – mit erkennbarer Physiognomie der Darsteller, um Emotionen besser ausdrücken zu können, die Nebenrollen mit Kunstköpfen, die es unmöglich machen, dahinter noch den Schauspieler zu erkennen. Dabei hat Klaus Noack als Bühnen- und Kostümbildner geradezu Meisterwerke geschaffen. Dem Publikum präsentiert sich ein Pandämonium an seltsamen Geschöpfen, wobei die beiden „Kultfiguren“ der Commedia dell’Arte, Truffaldin und Brigella, den Vogel abschießen. Ersterer, fetter Ober-Eunuch im Harem des Kaisers Altoum, könnte einer Grafik von George Grosz entsprungen sein, und letzterer kommt als Kampffisch-Verschnitt daher. Bei Kindern könnten beide wahrlich Angst erwecken, wenn sie dann jedoch den Mund aufmachen, ernten sie meist Gelächter. So tritt der Hauptmann der Wache Brigella (Stefan Schuster) anfangs als berlinernder Brutal-Pragmatiker auf, um später, bei einer Umbauphase, als schwäbelnder Gemütsmensch auf das Publikum hinab zu schauen. Sein Pendant Truffaldin (Tom Wild) gibt sich mal als kichernder Eunuch, dann wieder als hessisch babbelnder Simpel, der die einfachsten Zusammenhänge nicht „rafft“. Seine Sternstunde naht, wenn er in einer Umbaupause den Jauchschen Millionenquiz karikiert und sich dabei in den vier möglichen Antworten hoffnungslos verheddert. Szenenapplaus!

Gerd K. Wölfle (Pantalon), Leander Lichti und Harald Schneider (Tartaglia)

Als weitere Typenkleinode entpuppen sich die beiden Berater des Kaisers. Der korpulente Kanzler Pantalon (Gerd K. Wölfle), schwadroniert im breiten Oggersheimer Dialekt daher und verteilt seine unerbetenen Kommentare, Minister Tartaglia (Harald Schneider) nuschelt unhörbar seine Bemerkungen und muss permanent zu lautem Reden ermahnt werden. Nur Insider erkennen in ihm den Dramatiker Heiner Müller wieder. Zusammen bilden sie ein wahrhaft kurioses Tandem. Der Kaiser Altoum selbst (Hubert Schlemmer) regiert in roter Kaiserrobe und erhöht sich selbst mit Hilfe einer Holzkiste, und der Rat der Weisen ist ein Sammelsurium aus schrecklichen Altersgesichtern, die eine Ahnung von dem demographischen Wandel in Deutschland vermitteln. Kalafs alter Freund und Diener Barak (Uwe Zerwer) trägt eine derart überdimensionierte Nase und ein so voluminöses Kinn, das man um den Sauerstoffhaushalt des Darstellers unter der Maske fürchtet, und Kalafs alter Vater, der beinahe den Namen seines Sohnes verrät, kommt als Inkarnation des veramten und verlotterten Alten daher.

Nur die Frauen, und das ist wohl auch als Reverenz zu verstehen, bleiben als menschliche und vor allem weibliche Wesen erkennbar. Turandot (Iris Melamed) zeigt sich immer elegant bis raffiniert gekleidet, und ihre Maske wirkt keinen Moment lang schrecklich, sondern eher erotisch distanzierend. Ihre Dienerinnen Zelima (Britta Hübel) und Adelma (Christina Kühnreich) kommen mit wenig Maskenzutaten aus und vor allem Zelima bleibt sehr weiblich; Baraks Frau Skirina (Gabriele Drechsel) trägt dicke weiße Schminke im Gesicht und ansonsten ein braves Kostüm und ihr Handtäschchen zur Schau.

Leander Lichti (Kalaf) und Iris Melamed (Turandot)

Die Masken erlauben natürlich wenig mimische Akzente, wodurch sich die Wirkung der Schillerschen Verse zwangsläufig auf ein normales, eher unpathetisches Maß verringert. So bleiben trotz der im Grunde genommen brutalen Handlung alle Rollen bis auf die beiden Protagonisten bewusst im Grotesken verhaftet. Selbst ein Barak, der verzweifelt die Chancen auf eine Rettung des Prinzen schwinden sieht, erträgt dies mit einem gewissen fatalistischen Humor, als wolle er sagen: „im nächsten Leben wird alles besser“. Die abschiedsschwangeren Worte von Kalafs Vater gewinnen ähnlichen Charakter, wenn sie aus dieser überzeichneten Altersmaske kommen. Lediglich Prinz Kalaf (Leander Lichti) und – natürlich – Turandot dürfen Emotionen nahe der Wahrheit zum Ausdruck bringen. Während Prinz Kalaf eher die Rolle des Stichwortgebers und geradlinigen Draufgängers ohne hohes Reflexionspotential zufällt, die Leander Lichti allerdings souverän meistert, dreht sich alles um Turandot. Schon ihr Auftritt gerät jedes Mal zum Ereignis, weiß sie sich doch in höchstem Maße zu inszenieren. Iris Melamed zeigt in dieser Rolle wieder einmal ihre außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit und Eindringlichkeit. Sie bringt sowohl Turandots hochfahrenden Stolz als auch die den Hochmut begründende Verzweiflung an der Ungerechtigkeit der – männlichen – Welt zum Ausdruck, und sogar die finale Selbstüberwindung und Hinwendung der Prinzessin zu ihrem künftigen Lebenspartner gelingt ihr ohne falsche Sentimentalität oder gefährliches Pathos. Hätte man sie nicht bereits in einigen anderen überzeugenden Rollen gesehen, möchte man fast meinen: „nie hat man sie so gut gesehen….“

Diese Hommage an die vom Stück begünstigte Protagonistin – schließlich heißt es „Turandot“ – soll jedoch nicht die Leistung der anderen Darsteller mindern. Im Rahmen ihrer maskenbedingten Möglichkeiten zeigen sie durchweg eine überzeugende Ensembleleistung, bei dem man niemanden herausheben möchte. Die bewusste Reduzierung auf eine nicht psychologisierende sondern typisierende Interpretation der einzelnen Charaktere engt natürlich auch den Spielraum der einzelnen Darsteller ein, was jedoch, wie schon bemerkt, der Inszenierung eher gut tut. Die aktuellen Einsprengsel lockern den ansonsten doch etwas schlichten Handlungsablauf auf und verleihen ihm sogar ein wenig satirische Schärfe. Ein hintergründiger Humor durchzieht die gesamte Inszenierung und hält sich mit dem durchaus ernsthaften Konflikt der Prinzessin Turandot die Waage.

Das Bühnenbild verstärkt die Dichte der Inszenierung noch. Ein flacher, guckkastenförmiger Aufbau verengt bewusst die Bühne und lässt das Geschehen sich wie in einem unter Hochdruck stehenden Kessel abspielen, der den Akteuren nur wenig Freiraum zu erlauben scheit. Das intensive Rot dieses Guckkastens erhöht noch die Hitze des Kessels, dessen Dach die Köpfe der hingerichteten Prinzen zieren, und symbolisiert die tödlich-blutige Atmosphäre um die Prinzessin und ihre Freier. Die leise Assoziation des Rats der Weisen und der Minister mit dem Elferrat des Mainzer Karnevals glättet dieses blutrünstige Ambiente wiederum mit einer angemessenen Portion von Ironie.

Das Premieren-Publikum zeigte sich von dieser Inszenierung sehr angetan und spendete den schweißnassen Darstellern langen und wohl verdienten Beifall. Dieses Stück könnte sich durchaus zu einem „Renner“ entwickeln, wenn denn das Abonnementspublikum die Kombination von feiner Ironie und emanzipatorischem Ernst honoriert.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

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