Sören Kierkegaard: „Entweder – Oder“

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Sören Kierkegaard, geboren 1813 in Kopenhagen, wurde nur 42 Jahre alt und starb 1855 an einem Schlaganfall. In dieser relativ kurzen Zeit hat er jedoch ein beeindruckendes philosophisches Werk geschaffen, das zu den großen Standardwerken der philosophischen Literatur gehört. Anlässlich seines 150. Todesjahres ist im letzten Jahr eine neue Ausgabe seines Hauptwerkes erschienen.

Es ist hier nicht der Platz, das philosophische Werk Kierkegaards zu würdigen oder gar zu kritisieren. Dazu sieht sich der Rezensent auch in keiner Weise in der Lage. Diese Rezension soll eher philosophisch Interessierten als Hinweis auf diese neue Ausgabe dienen und dem Kierkegaard-„Unkundigen“ einige Interesse weckende Informationen über den Autor und sein Werk geben.

Im Gegensatz zu anderen Philosophen sticht Kierkegaard durch sein erzählerisches Talent hervor, das geradezu unterhaltenden Wert aufweist. Obwohl er sich mit den existenziellen Themen der menschlichen Existenz, vor allem dem „Wahrheits“-Begriff, auseinandersetzt, liest sich das umfangreiche Werk nie trocken oder gar akademisch unverständlich. Um dem Leser seine Lebensalternativen, die sich hinter dem antithetischen Wortpaar „Entweder – Oder“ verbergen, nahe zu bringen, kleidet er seine Ausführungen in einen Briefwechsel zwischen zwei vermeintlichen Freunden ein, von denen der eine eine „ästhetische“, der andere eine „ethische“ Weltanschauung vertritt. Unter ersterer, vertreten vom Briefschreiber A, versteht Kierkegaard eine Auffassung, die das sinnlich Erfassbare als das einzig Gegebene betrachtet und jeden weiteren Überbau verneint. Daher muss sich diese Lebensauffassung in einem wie auch immer gearteten „Genuss“ des Daseins erschöpfen. Hierzu gehört eine längere Abhandlung über das Wesen der Begierde, deren Stufen Kierkegaard anhand der drei Mozart-Opern „Figaros Hochzeit“, „Die Zauberflöte“ und „Don Giovanni“ (bei Kierkegaard „Don Juan“) äußerst lebendig und dennoch tief schürfend erläutert. Später erweitert er diese Sicht des Ästheten um drei Porträts verlassener Frauen: Marie Beaumarchais („Clavigo“), Donna Elvira („Don Giovanni“) und Gretchen („Faust“). Ein geradezu brillanter Essay beschreibt die psychologischen Verwicklungen in Eugen Scribes Komödie „Die erste Liebe“. Den Höhepunkt der „ästhetischen Apologie“ schließlich bildet „Das Tagebuch eines Verführers“, in dem A in äußerst verfeinerter und geradezu diabolischer Art die Strategien und die Beweggründe der Verführung beschreibt. Dabei ergibt sich geradezu zwangsläufig die zynische Erkenntnis, dass den Verführer nur der Vorgang des Verführens interessiert. Der Genuss liegt in dem Vorgang der Verführung, nicht in dem angestrebten Genuss. „Der Weg ist das Ziel“ lautet die Quintessenz, während für die Verführte dieser Weg erst mit der erfolgreichen Verführung beginnt, jedoch unerwartet und abrupt abgebrochen wird. Dieses tragische Missverständnis lässt sich unter „ästhetischen“ Gesichtspunkten auch nicht auflösen.

Briefschreiber B wirkt in seiner Diktion oft fast etwas bieder, so wenn er immer wieder auf sein angeblich geringes philosophisches Talent und seinen bürgerlichen Lebenswandel verweist. Kierkegaard bewirkt mit diesem bescheidenen Beginn eine Steigerung, die sich langsam aus den ethischen Maßstäben des Briefschreibers ergibt. Seine „Waffe“ ist nicht die ästhetisch-literarische Raffinesse – auf diesem Gebiet kann (und will) er sowieso nicht mit dem Ästheten mithalten – sondern seine innere Aufrichtigkeit und die Übereinstimmung seiner Lebensauffassung und – führung mit einer menschlichen und göttlichen Wahrheit, die sich Stück für Stück aus seinen Ausführungen ergibt. In zwei detailliert ausgeführten Abhandlungen beweist er die „ästhetische Gültigkeit der Ehe“ und arbeitet „Das Gleichgewicht zischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit“ heraus. Mit diesen beiden Abhandlungen positioniert sich B – und damit Kierkegaard – eindeutig als der Wahrhaftigere gegenüber dem „bloß ästhetisch“ lebenden Menschen.

Ein nahezu hundert Seiten langer Kommentar von Niels Thulstrup zeigt Querverweise auf zeitgenössische Strömungen, Philosophen und Literaten auf und erklärt viele Details des Textes, die vor allem für weiter führende Studien zum Thema „Kierkegaard“ nützlich sind. 

Das 1038 Seiten umfassende Buch ist imDeutschen Taschenbuchverlag (dtv)unter der ISBN 3-423-13382-1 erschienen und kostet 14 €.

Frank Raudszus

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