Sally Rooney: Normale Menschen

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In ihrem Roman „Normale Menschen“ dokumentiert Sally Rooney die Entwicklung der Beziehung zwischen Connell und Marianne vom letzten Schuljahr in der High School bis zum Ende ihres Studiums am Trinity College in Dublin.

Beide sind in dem kleinen Ort Carrickleagh an der Westküste Irlands aufgewachsen, sie als Tochter einer wohlhabenden Mittelstandsfamilie, er als Sohn einer alleinerziehenden Frau, die ihren Lebensunterhalt als Putzfrau verdient, unter anderem bei Mariannes Familie.

Die Erzählung umfasst den Zeitraum von Januar 2011 bis Februar 2015. Die Zeitintervalle variieren zwischen wenigen Minuten und mehreren Monaten.

Rooney verfolgt die Beziehung ihrer beiden Protagonisten von einer geheimen Schülerliebe über Trennungen und Wiederbegegnungen, über Beziehungen zu anderen Partner zu einer schließlich erwachsenen Partnerschaft.

Connell und Marianne ähneln sich sowohl in ihrer außerordentlichen Intelligenz und Leistungsfähigkeit als auch in ihren inneren Konflikten. Beide schwanken zwischen Überanpassung und Isolation, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifel, die sie zu Depression (Connell) bzw. Magersucht und Selbstunterwerfungsbedürfnis (Marianne) führen.

Das Bedürfnis nach Anerkennung durch die Peergroup überwiegt immer wieder den Mut zur eigenen Identität und zum Bekenntnis zum anderen.

Ein wichtiger Einschnitt für beide ist der Selbstmord eines ehemaligen Klassenkameraden.

Das lässt sie die Verlogenheit vieler scheinbarer Freunde erkennen, die die Empfindung großer Trauer vorgeben, als hätte sie mit dem Verstorbenen eine innige Freundschaft verbunden.

Der Rückzug in das Elternhaus ist für Connell möglich, weil er der liebevollen und zugleich durchaus auch kritischen Begleitung durch seine Mutter Lorraine sicher sein kann, die das Herz auf dem rechten Fleck zu haben scheint und ein instinktives Sensorium für Wahrhaftigkeit einerseits und Verlogenheit andererseits hat.

Für Marianne ist dieser Rückzug keine Alternative, denn das Elternhaus ist eigentlich keines. Der Vater, der offenbar sowohl sie als auch die Mutter geschlagen hat, ist inzwischen verstorben. Die Mutter, deren Gefühlskälte von anderen bestätigt wird, ist meist abwesend. Der ältere Bruder ist gewalttätig und versucht die Schwester zu beherrschen. Marianne ist offenbar das Produkt von emotionaler Wohlstandsverwahrlosung. Sie hat große Probleme, einem anderen zu vertrauen, zweifelt immer wieder an Connells Gefühlen für sie und gefährdet dadurch die Beziehung.

Beide sind leiden unter dem Gefühl, anders zu sein, dabei sind sie getrieben von dem Wunsch, wie ganz „normale Menschen“ zu empfinden. Sie unterstellen, dass nur sie unter dem Anpassungsdruck leiden, während alle anderen aus ihrer Sicht diese Probleme nicht haben.
Sally Rooney geht es um diesem Irrtum vieler jungen Menschen, die in ihrer Selbstbezogenheit nicht erkennen, dass es den meisten ihrer Mitschülerinnen und Mitstudentinnen ebenso geht. Mangelnde Empathie ist offenbar ein Wegbegleiter der Suche nach dem eigenen Selbst.

Der Schluss lässt Raum für die Hoffnung, dass Connells emotionale Stärke Marianne auf Dauer Sicherheit und Geborgenheit geben kann.

Dennoch bleiben für die Leserin einige Fragen offen: Was ist die Ursache für Mariannes so gravierende Beschädigung? Man hätte gerne eine genauere Zeichnung dieser Familie gehabt, zu vieles wird nur angedeutet, die Rolle des Vaters bleibt ganz verschwommen. 

Es bleibt auch die Frage, warum Marianne bei all ihrer Intelligenz nicht psychologischen Rat sucht, wie Connell es tut. Allerdings bleibt bei Connell offen, ob die sehr stereotype Beratung ihm wirklich hilft oder ob er neue Kraft aus seinem Verantwortungsgefühl für Marianne gewinnt.

Rooney vermittelt die Hoffnung, dass Erwachsen-Werden heißt, die Kraft der Liebe zu entwickeln und „wie normale Leute“ eine stabile, vertrauensvolle Beziehung zu leben. Wie brüchig eine solche Beziehung bleibt, wenn die psychischen Grundkonflikte nicht bearbeitet werden, ist die Frage.

Etwas irritierend ist der Dokumentationsstil, weil die Zeitsprünge oft sehr groß sind und ganze Entwicklungsschritte ausgespart sind, die die Leserin mit eigenen Vermutungen füllen muss.

Ich habe öfter zurückgeblättert, weil ich das Gefühl hatte, ein Kapitel überschlagen zu haben.

Für Leserinnen der älteren Generation gibt dieser Roman einen Einblick in die besonderen Identitätskonflikte der jungen Generationen, die der ständigen sozialen Kontrolle durch die sozialen Medien ausgesetzt sind. Es kostet diese jungen Menschen offenbar sehr viel Kraft, den äußeren Schein von Coolness zu wahren und Gefühle und Probleme vor der Peergroup zu verbergen.

Aus der Sicht der älteren Generation sind diese jungen Leute nicht zu beneiden. Indirekt ist dieser Roman damit auch ein Appell an die ältere Generation, empathischer auf die Jungen zu blicken.

Das Buch ist im Luchterhand Verlag erschienen, hat 320 Seiten und kostet 20 Euro.

Elke Trost

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