Fjodor M. Dostojewski: „Schuld und Sühne“

Print Friendly, PDF & Email

Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ ist wohl eines der Werke der Weltliteratur mit dem höchsten Bekanntheits- und Bedeutungsgrad. Schon der Titel ist aufgeladen mit moralischer – und christlicher – Symbolik, und der Inhalt steht der Titelvorgabe in nichts nach. Diese Tatsache verlangt geradezu nach einer jederzeit verfügbaren Tonträgerversion, die seit einiger Zeit mit diesem mp3-Hörbuch vorliegt.

Im Mittelpunkt des Romans steht der ehemalige Student Raskolnikow, der – durchaus überdurchschnittlich begabt – an Selbstüberschätzung leidet und den Gedanken entwickelt, geniale Menschen seien berechtigt, sich des Lebens der einfachen Menschen – er nennt sie „Läuse“ – in beliebiger Weise für ihre eigenen, hoch fliegenden Ideale zu bemächtigen. Aufgrund seiner prekären finanziellen Verhältnisse muss er Wertgegenstände bei einer Pfandleiherin versetzen, die für ihn den Abschaum einer raffgierigen und selbstsüchtigen Gesellschaft darstellt. Bald reift der Plan, sie für die Realisierung seiner eigenen Zukunft umzubringen. Als seine Schwester eine Vernunftheirat mit einem ungeliebten Mann plant, nur um ihrem Bruder das Studium zu bezahlen, setzt er seinen Plan in die Tat um und ermordet – sozusagen als Kollateralschaden – auch noch die geistige behinderte Schwester der Pfandleiherin.

Zwar kann er dem Tatort mit einigem Glück unerkannt entkommen, doch das Gewissen beginnt unverzüglich in ihm zu arbeiten und wirft ihn erst einmal in ein mehrtägiges Fieber, in dem er fast seine Tat verrät. Glasklar erkennt er, dass er sich mit diesem Doppelmord selbst aus der Gesellschaft ausgeschlossen hat, und weist alle – erst nur medizinisch begründeten – Hilfe seiner Freunde von sich. Als Mutter und Schwester zum Besuch des Bräutigams in St. Petersburg eintreffen, eskaliert die Situation, weil er sich seiner Schuld umso mehr bewusst wird und erkennt, dass er seine Familie durch seine Tat verloren hat. Mehr als einmal überlegt er, sich der Polizei zu stellen oder von einer Brücke zu springen, aber zu beidem fehlt ihm der letzte Mut. Quälend langsam muss er sich der Erkenntnis stellen, dass er seine Mitmenschen in keiner Weise überragt und dass sein in einen scheinbar gerechtfertigten Mord mündender Hochmut nichts als eine Selbsttäuschung ist. Erst die Liebe einer selbst aus Selbstlosigkeit zur Prostituierten gewordenen jungen Frau bringt ihn nach langen inneren Kämpfen und einer Läuterung im christlichen Sinne zu dem nun auch offiziellen Geständnis.

Dostojewski bettet diesen Entwicklungsprozess eines jungen Menschen – was möchte man hier das Wort „coming-off-age“ benutzen – in eine Reihe von Nebenhandlungen ein, in denen er den Zustand der russischen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt. Da ist einmal das Schicksal von Mutter und Schwester, die selbst in ärmlichen Verhältnissen in der Provinz leben und verschiedenen gesellschaftlichen Repressionen ausgesetzt waren und noch sind. Der Bräutigam der Schwester ist Advokat und sucht eine arme Braut, die ihm ewig für ihre Versorgung dankbar sein muss.

Und da ist der ehemalige Beamte Marmeladow, der dem Alkohol verfällt und seine Frau und drei Kinder in bitterste Armut stürzt. Seine Tochter aus erster Ehe rettet die Familie durch – unfreiwillige! – Prostitution vor dem Verhungern.

Daneben wird die intellektuelle Schicht aus Studenten und jungen Akademikern geschildert, die zwischen hochfliegenden revolutionären Träumen und Anpassung schwanken. Oder die Beamtenschaft, repräsentiert vor allem durch Polizisten und Richter und Justizbeamte, die das Selbstverständnis des zaristischen Staates widerspiegeln.

All diese Nebenhandlungen münden in ausufernde Gespräche über die Zustände, Hoffnungen und Ängste aller Beteiligten, was dem Werk durchaus epische Breite und Vielfalt bringt, aber auch für Längen sorgt. Es ist für das – aus Literatur, Fernsehen und Film schnelle Handlungsschnitte gewöhnte – Hörpublikum durchaus eine Herausforderung, diesen weit ausholenden auktorialen und dialogischen Ausführungen zu folgen. Vor allem muss man sich darauf einlassen, Raskolnikows sich immer mehr zuspitzenden, zweifelnden und selbstquälerischen Gedanken zu folgen. Dostojewski entwickelt dabei durchaus eine hohe psychologische Spannung, aber die liegt nicht zuletzt in der Wiederholung und minimalen Variation des stets Gleichen.

Gert Wameling gelingt es jedoch, Raskolnikows inneren Zustand glaubwürdig und überzeugend wiederzugeben und damit den Spannungsbogen zu halten und sogar weiter zu spannen. Die Längen entstehen dann eher durch die detaillierte, meist dialogische Schilderung des Umfelds, das aus seinem Freund Rasumuchin, dem Arzt, der Zimmerwirtin, der jungen Magd Nastassja und vor allem seiner Mutter und seiner Schwester besteht. Dazu kommen die Familie des Alkoholikers Marmeladow mit dessen „gefallener“ Tochter Sofia sowie verschiedene Staatsbeamte.

Wer einen Einblick in die russischen Verhältnisse und die Mentalität im 19. Jahrjundert gewinnen möchte, für den ist dieses Hörbuch eine fast unerschöpfliche Quelle. Man sollte allerdings viel Zeit mitbringen, etwa lange Autofahrten, um dieses Hörbuch bis zum letzten Kapitel auszukosten.

Das Hörbuch ist im Audio-Verlag erschienen, umfasst 3 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 24 Stunden und 29 Minuten und kostet 10 Euro.

Frank Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar