Juri Buida: Nulluhrzug

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Der Roman „Nulluhrzug“ von Juri Buida ist im russischen Original bereits 1993 in der Zeitschrift „Oktjabr“ in Moskau erschienen. Erst jetzt wurde er ins Deutsche übersetzt.

Der Roman ist als Parabel zu verstehen, die zeigt, was autoritäre Regimes mit Menschen machen, denen als reinen Befehlsempfängern jegliche Entscheidungsfreiheit und Individualität genommen wird.

Ort der Handlung ist ein Dorf irgendwo im sowjetischen und nachsowjetischen Russland. Unter dem sowjetischen Regime wurden Menschen hier an der 9. Station angesiedelt, um die reibungslose Durchfahrt des „Nulluhrzugs“ zu gewährleisten. Es bleibt offen, ob sie freiwillig gekommen sind oder gezwungen wurden. Entscheidend ist, dass jeder und jede an dieser Station eine eng umrissene Aufgabe zu erfüllen hat, ohne dass einer die Zusammenhänge kennt. Keiner weiß, woher der plombierte Nulluhrzug kommt, wohin er fährt und was er transportiert. Das Personal dieser Station ist streng hierarchisch gegliedert, jeder hat den Befehlen des nächst Höheren zu gehorchen. Das Leben aller an diesem Ort ist warten, warten auf den Zug und funktionieren.

In dieser Zwangsgemeinschaft entwickeln sich über 40 Jahre menschliche Schicksale, in deren Zentrum die Figur des Iwan Ardabjew steht. Er ist der ewig Heimatlose, dessen Eltern sich als „Volksfeinde“ vor den Augen des Zehnjährigen erschossen haben. Seine „Heimat“ ist zunächst das Kinderheim, später die 9. Station.

Mit unglaublicher Kraft und Beharrlichkeit geht er durch dieses Leben, nimmt sich, was er will – meist Frauen -, wenn es sein muss, mit Gewalt; liebt nur eine, aber auch sie kann er nur mit Gewalt erringen.

Der Roman beginnt mit dem Auszug der Menschen aus dieser Station, die nach 40 Jahren geschlossen ist, dem Verfall preisgegeben. Wohin sie gehen, bleibt offen. Sie folgen einer vagen Hoffnung auf ein anderes Leben jenseits des Flusses. Über diesen Fluss wurden sie hergebracht, sein Überschreiten scheint für sie der Aufbruch in neues Leben zu sein, diesseits bleiben Tod und Zerfall.

Schließlich ist Iwan der Einzige, der zurückbleibt. Er lässt die vergangenen 40 Jahre Revue passieren, die geprägt waren von der Pflicht, für den Nulluhrzug da zu sein und sonst für gar nichts. Manche sind daran verzweifelt, haben sich auf den Weg gemacht, um Ursprung oder Ziel des Zuges oder den Sinn des Zuges und seine Fracht herauszufinden. Manche sind nie zurückgekehrt. Man weiß nicht, ob sie getötet wurden oder einfach verschwunden sind oder was mit ihnen dort geschehen ist. Andere sind zurückgekehrt, verwirrt und verstört.

Für Iwan gibt es kein Überschreiten des Flusses, er glaubt an den Zug, auch als es ihn schon lange nicht mehr gibt. Auch diese Situation kann er schließlich nur mit einer Gewalttat beenden.

Dieser Roman schildert mit bezwingender Eindringlichkeit die Verlorenheit der Menschen an diesem unwirtlichen Ort in ihrem sinnlosen täglichen Funktionieren. Sie sind abgerichtet von den dem System dienenden Autoritäten, die ihrerseits nur Befehlsempfänger einer unbekannten Macht sind. Hier werden Kinder tot geboren oder sie sterben früh, es ist ein Ort ohne Zukunft.

Auch mit der neuen Freiheit können die Menschen offenbar nichts anfangen, denn die Flucht über den Fluss hat kein Ziel und keinen Zweck. Es ist ein Weg ins Ungewisse, der ebenso in neue Unfreiheit und Abhängigkeit münden kann.

Als Parabel geht es um die innere Zerstörung der Menschen, die ihnen innere Lebendigkeit unmöglich macht.

Dass der Aufbau Verlag sich jetzt zu einer deutschen Ausgabe entschieden hat, ist bemerkenswert, leben wir doch in Zeiten, in den sich immer mehr Menschen bereitwillig fragwürdigen Autoritäten unterwerfen, ohne nach deren Hintergründen und Zielen zu fragen.

Dem Roman ist ein Nachwort von Julia Frank beigefügt, die eine Interpretation des Textes gibt. Für sie entspricht die Parabel einem kafkaesken Szenario, was angesichts der absurden Lebenssituation an diesem Ort durchaus angemessen ist.

Man fragt sich als Leserin nur, was den Aufbau Verlag zu diesem Nachwort bewogen hat. Traut er seinen Leserinnen und Lesern nicht zu, selbst die Hintergründigkeit des Textes zu erfassen? Eigentlich schade.

Das Buch ist im Aufbau Verlag erschienen, hat 142 Seiten und kostet 18 Euro.

Elke Trost

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