Hanya Yanagihara: „Das Volk der Bäume“

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Der berühmte, mit Preisen für seine anthropologischen Forschungen überschüttete Wissenschaftler Norton Perina wird eines Tages von einigen seiner zahlreichen Adoptivkinder des Missbrauchs angeklagt und kommt vor Gericht. Das verurteilt den bereits älteren Mann zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe, während der er eine Autobiographie speziell zu dem Thema verfasst, dass ihn einerseits berühmt gemacht hat und ihn andererseits zu einem Kriminellen hat werden lassen.

Als Student der Biologie und Medizin ist Norton nicht besonders engagiert und schlägt sich eher schlecht als recht durchs akademische Leben an der Universität. Kurz nach seinem Medizin-Examen erhält er das Angebot, einen Anthropologen auf eine Forschungsreise nach Mikronesien zu begleiten, der dort einen sagenumwobenen Volksstamm auf einer kleinen Insel finden und erkunden will. Norton sagt eher aus Langeweile zu, obwohl ihn bereits da der Verdacht plagt, dass der ihn empfehlende Professor ihn aus persönlichen Gründen möglichst weit wegschicken möchte.

Auf der einsamen Insel entdecken die Forscher tatsächlich einen tief im Wald lebenden Stamm, der einerseits ein Leben vorzivilisatorischer Einfachheit führt, sich aber andererseits durch eine Besonderheit auszeichnet. Ein Teil des Stammes ist bewusst ausgegrenzt worden und führt ein vereinzeltes Außenseiterleben im Wald, erreicht dabei aber ein geradezu methusalemisches Alter. Während der Forschungsleiter eher allgemeine anthropologische Aspekte beleuchtet, fasziniert Norton von Anfang an das hohe Alter der Ausgegrenzten, das offensichtlich mit Demenz einhergeht. Als verschiedenene Plausibilitätskontrollen Alterswerte von mehreren hundert Jahren ergeben, ist Norton elektrisiert, glaubt er doch, so etwas wie ein Elixier der Unsterblichkeit extrahieren zu können. Eine Recherche ergibt, dass die Ausgegrenzten das Fleisch einer als göttlich eingestuften Schildkröte gegessen haben und deshalb verjagt wurden. Weitere überschlägige Untersuchungen lassen eindeutig auf eine bestimmte chemische Verbindung in dem Schildkrötenfleisch als Ursache des langen Lebens schließen. Norton fängt daher gegen die ausdrücklichen Gesetze des Stammes eine Schildkröte, schlachtet sie und nimmt einen Teil des Fleisches mit in die USA.

Dort wird er in den nächsten Jahren zu dem führenden Forscher auf diesem Gebiet und stellt sogar seine wissenschaftlichen Mitreisenden aufgrund seiner Thesen und des sie belegenden Fleisches in den Schatten. Entsprechende Preise und Ehrungen sowie der Neid der wissenschaftlichen Konkurrenten sind ihm sicher.

Auf einer zweiten Reise zu der seltsamen Insel werden ihm plötzlich die Kinder eines „Ausgegrenzten“ angeboten, da man ihn – nicht ganz zu Unrecht – als den Verantwortlichen für dessen frühen Freitod betrachtet. Hier entsteht zum ersten Mal und unter außergewöhnlichen Umständen ein bewusster Kontakt Nortons zu Kindern. Zurück in den USA, wird sich diese Nähe zu Kindern verstärken und führt schließlich dazu, dass Norton mit wachsender Berühmtheit beginnt, Kinder zu adoptieren, was ja im Grunde genommen eine soziale Handlung darstellt. Doch der Umgang mit diesen Kindern wird zunehmend intimer und weckt in Norton ein entsprechendes erotisches Begehren. Was der Leser bzw. Hörer anfangs für eine bewusst eingeführte Beschuldigung hielt, die sich später triumphierend als haltlose Unterstellung herausstellen werde, erweist sich als zutreffend. Norton ist pädophil, lebt diese neigung aus und kommt damit lange Zeit wegen seiner hohen Reputation durch.

Soviel zur Handlung. Die Darstellungsweise und die Aussage dieses Romans sind jedoch in literarischer Hinsicht fragwürdig. Was das hohe Alter der Inselbewohner betrifft, handelt es sich hier um eine reine Fiktion, die wissenschaftliche Aufmachung mit reichlich Fußnoten ist daher nur ein literarischer Trick, um einerseits die Welt der Wissenschaft darzustellen und andererseits die Leser in eine Glaubwürdigkeitsfalle zu locken. Letztlich geht es einerseits darum, was Wissenschaft darf – zum Beispiel, „primitive“ Eingebohrene wie Testobjekte behandeln -, und andererseits darum, ob seine wissenschaftlichen Verdienste einem Menschen einen größeren moralischen Freiraum verschaffen. Letzteres wird man als direkte Frage verneinen, in der Realität jedoch wurden und werden Vorwürfe gegenüber Prominente noch bis vor Kurzem gerne heruntergespielt – siehe „Metoo“.

Die Autorin vermischt hier also zwei Anliegen, die im Grunde genommen nichts miteinander zu tun haben. Das jedoch ist nicht die wesentliche Schwäche des Romans. Man kann durchaus die Wissenschaftswelt im Kontext eines solchen Romans kritisch darstellen, dann sollte man jedoch nicht derart ausschweifend über ein wissenschaftliches Thema berichten, das erstens fiktiv und zweitens im Sinne des Romans austauschbar ist. Hier geht es um einen Wissenschaftler, der seiner Umwelt und seinen menschlichen (!) Forschungsobjekten keinerlei wirkliche Achtung oder gar Empathie entgegenbringt. Das aber hätte man an jedem humanwissenschaftlichen Thema und vor allem wesentlich kompakter darstellen können. So aber verliert sich die Autorin in die letzten Details der mikronesischen Bevölkerung und vor allem der geheimnisvollen Alterung, ohne dass dieses einen Erkenntnisfortschritt in wissenschaftlicher Hinsicht oder bezüglich der Pädophilie des Protagonisten mit sich bringt.

Die Absicht ist dennoch deutlich: Yanigihara will durch die detaillierte Beschreibung der Ereignisse aus Perinas Perspektive eine Identifizierung des Lesers mit dieser Figur bewirken, um sie dann anschließend anhand des nachgewiesenen Kindesmissbrauches umso stärker in Frage zu stellen. Statt mit den Personen ihres Romans spielt sie mit ihren Lesern, was zwar auf letztere durchaus entlarvend wirken mag, aber doch etwas aufgesetzt Moralisierendes mit sich führt. Das Problem der Pädophilie im Kontext der gesellschaftlichen Reputation hätte man auch dichter und stringenter abhandeln können. Noch besser macht es die Realität: sie hat mit „MeToo“ in kürzester Zeit weltweit Prominente von ihren scheinbar einbetonierten Erhabenheitssockeln geholt und in den Orkus der Bedeutungslosigkeit oder gar ins Gefängnis gebracht.

Die Sprecher werden ihren Rollen jedoch in jeder Hinsicht gerecht. Günter Schoß liest die Autobiographie Norton Perinas mit dem sonoren Unterton absoluter Selbstgewissheit und angeborener Empathielosigkeit, während Matthias Bundschuh den Fußnoten von Perinas ehemaligem Assistenten einen penetrant anbiedernden Charakter verleiht .

Das Hörbuch ist bei HörbuchHamburg erschienen, umfasst drei mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 1075 Minuten (18 Stunden!) und kostet 25 Euro.

Frank Raudszus

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