Werner Milstein: „Einer muss doch anfangen“

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Ältere Jahrgänge kennen noch Namen wie Sophie und Hans Scholl sowie Begriffe wie „Die weiße Rose“. Bei jüngeren Menschen ist das nicht mehr unbedingt der Fall, weil für sie und auch schon für ihre Lehrer die Zeit des Dritten Reiches zu lange zurückliegt, um noch persönliche Betroffenheit auszulösen. Das sei hier nicht als Vorwurf, sondern nur als Feststellung vermerkt. Angesichts dieses Hintergrunds ist es angebracht, ein Jubiläum wie den hundertsten Geburtstag von Sophie Scholl dafür zu nutzen, um den Hintergrund dieser tragischen und – ja, hier ist das Wort wohl erlaubt – heldenhaften Geschichte anhand einer Biographie noch einmal aufzurollen.

Sophie Scholl kam im Jahr 1921 als viertes von fünf Kindern einer katholisch-gläubigen schwäbischen Familie zur Welt. Ihr prinzipientreuer wenn auch bisweilen etwas starrköpfiger Vater erzog seine Kinder zu Gottvertrauen, Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit und war von Beginn an Gegner des Nationalsozialismus. Seine Kinder dagegen folgten dem Aufbruch von 1933, und auch Sophie war anfangs begeistertes Mitglied des BDM (Bund Deutscher Mädchen) und ihres „Führers“. Anfangs verstand sie vieles nicht – sie war bei der Machtergreifung erst 11 Jahre alt – und folgte der allgemeinen Begeisterung, und die negativen Seiten wurden einem Kinde lange nicht bewusst. Die Begeisterung begann jedoch zu bröckeln, als sie sah, wie gute Bekannte ihrer Eltern mitsamt ihren Kindern ausgegrenzt und verfolgt wurden. Bereits Ende der 30er Jahre löste sich die 17jährige innerlich vom BDM und folgte ihrer eigenen Agenda.

Im Krieg, den sie als gläubige Katholikin prinzipiell ablehnte, erfuhr sie von Freunden ihres Bruders Hans, seines Zeichens Wehrmachtsoldat, von Greueln an Zivilisten erst in Polen und dann in Russland, was sie letztlich dazu bewegte, ganz persönlich Widerstand zu leisten. Sie beteiligte sich an Flugblattaktionen ihres Bruders und dessen Freundes Alexander Schmorell, bis die drei im Februar 1943, nach der Niederlage bei Stalingrad, bei einer nicht zuletzt dadurch befeuerten Aktion aufflogen und vor Gericht gestellt wurden. Die Verhandlung fand am Vormittag des 22. Februar unter der Leitung von Roland Freisler statt und endete mittags mit drei Todesurteilen. Diese wurden noch am selben Tage auf der Guillotine vollstreckt.

Werner Milstein erzählt diese Geschichte auf eher nüchterne Weise, was die Wirkung nur noch verstärkt. Frühere Darstellungen waren oft von – verständlichen – Emotionen, Pathos und Anklagen getränkt. Anklagen wirken heute nicht mehr, da sie einerseits selbstverständlich und andererseits bereits in hohem Maße erfolgt sind. Auch das Pathos hat sich als zweischneidiges Schwert – sprich: Stilmittel – erledigt, da es den Autor eher dem Verdacht der moralischen Selbstinszenierung aussetzt. Außerdem gilt: Pathos ist der Größe des Verbrechens unangemessen, da es latent diminutiv wirkt. Milsteins sachliche Beschreibung der Abläufe dagegen lässt die Obszönität der Gewaltherrschaft erst richtig in den Vordergrund treten.

Erstaunlich an diesem Buch wie bei vielen anderen Darstellungen der Scholl-Tragödie ist die Fokussierung auf Sophie. Milstein bringt deutlich zum Ausdruck, soweit es die Dokumente hergeben, dass Hans Scholl und Alexander Schmorell die Gründer der „Weißen Rose“ und Verfasser der ersten Flugblätter waren. Das liegt auch nahe, da Hans die Informationen über Massenerschießungen und Judenvernichtung in den KZs aus erster Hand erhielt und wegen seines Altersvorsprungs auch auf mehr Erfahrungen zurückblicken konnte. Und obwohl er das selbe Schicksal wie seine Schwester erlitt, steht sie meist im Mittelpunkt. Das lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass die Hinrichtung einer jungen Frau von 22 Jahren intuitiv als wesentlich grausamer angesehen wird als das gleiche Schicksal eines jungen Mannes und Frontsoldaten.

Das bedeutet nicht, dass Milstein die Schicksale von Hans Scholl, Alexander Schmorell und Fritz Hartnagel, ganz abgesehen von älteren Mitwissern wie Professoren, unter den Tisch fallen lässt, aber ihre Biographien sind in diesem Buch zweitrangig und werden nur insofern erwähnt, als sie für das Verständnis von Sophies Entwicklung wichtig sind.

Das sind jedoch eher sekundäre Kritikpunkte, denn jeder Autor ist frei in der Setzung seiner Schwerpunkte. Ihm gelingt es gerade durch seine eher chronistische Erzählweise, die unfassbare Brutalität des Systems und den Hass seiner Vertreter auf alle Kritiker zum Ausdruck zu bringen. Wer bringt es fertig, drei junge Menschen nur wegen kritischer Flugblätter an einem Vormittag zum Tode zu verurteilen und sie dann mit tödlicher Eile – fast schon persönlich – auf die Guillotine zu schnallen? Der Leser fragt sich spontan, was in den Köpfen dieser staatlichen Vertreter – vom Polizisten über Staatsanwalt und Richter bis hin zum Henker – vorgehen musste, um diese Unrechtsaktionen in so kurzer Zeit und so effektiv durchzuführen. Es muss schon eine Freude an der Grausamkeit dahinter stecken, die meist auf Minderwertigkeitsgefühlen und Rachebedürfnis gegenüber der Gesellschaft beruht.

Ein ernsthafter Kritikpunkt soll hier aber nicht verschwiegen werden. Dieses Buch hat offensichtlich kein Lektor durchgesehen, weder ein privater noch einer des Verlags. Denn es enthält eine Reihe inakzeptabler Fehler, die von typischen „Vertipperketten“ über falsche Deklinationen und Konjugationen bis zu grammatischen Fehlern reichen. Dass diese Fehler nicht auf mangelnder Bildung des Autors sondern offensichtlich auf Flüchtigkeiten beim Schreiben beruhen, macht die Sache deswegen nicht weniger ärgerlich. Wenn der Autor aber bei der Beschreibung von Sophies Studentenbude schreibt „Der Blick ging durchs Fenster nach draußen“, dann ist dieser Satz an Dichte und Aussagekraft nicht mehr zu überbieten.

Das Buch ist im Gütersloher-Verlagshaus erschienen, umfasst 208 Seiten und kostet 15 Euro.

Frank Raudszus

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