Julie Zeh: „Leere Herzen“

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Dieser Roman ist 2016 als unmittelbares Echo der Flüchtlingskrise entstanden. Nach der massenhaften EInwanderung musste die Bundekanzlerin auf öffentlichen Druck hin zurücktreten und das Feld der neu entstandenen Partei „Bund besorgter Bürger (BBB)“ überlassen. Schelm, wer hier an die AfD denkt. Die neue Regierung hat in den letzten Jahren – der Roman spielt vielleicht 2020/21 – eine demokratische Bastion nach der anderen geschleift und das „gesunde Volksempfinden“ in entsprechend autoritären Gesetzen berücksichtigt. Zwar gibt es noch Wahlen und die demokratische Verfassung, aber die gibt es ja in Ländern wie Russland auch.

Britta betreibt mit ihrem irakischen Partner eine psychotherapeutische Praxis, in der sie Selbstmordgefährdete berät, und sorgt für die finanzielle Grundlage ihrer kleinen Familie mit Mann – seines Zeichens Gründer eines Finanz-Startups und ohne Einkommen – und kleiner Tochter. Sie hat sich im neuen Deutschland eingerichtet und beschränkt sich auf ihren Beruf und ihre Familie. Ein befreundetes Ehepaar – er Schriftsteller, sie Hausfrau – lebt mehr schlecht als recht vom neu eingeführten Grundeinkommen und ist eigentlich zufrieden. Man ist zwar gegen die „BBB“-Regierung, hat sich jedoch im Grunde genommen ganz gut eingerichtet.

Soweit, so schlecht – könnte man als Leser meinen, aber die Pointe liegt an einer anderen Stelle. Britta und ihr Partner haben im Laufe ihre Arbeit eine umfangreiche Datenbank an Suizidgefährdeten angelegt und diese nach allen Regeln der IT nach Schwere der Suizidneigung analysiert. Dabei entwickelte sich die zwangsläufig die Idee, die „unheilbaren“ Fälle einem guten Zweck zuzuführen. Den haben die beiden in Selbstmordattentaten durch entsprechende Institutionen – Fundamentalisten aller Art – gefunden. Sie bieten ihre besten Kandidaten auf einem schwarzen Markt – dem „Darknet“ – gegen entsprechende Gebühren an und finden immer wieder dankbare und gut zahlende Abnehmer. Darüber hinaus vermachen ihnen die glücklichen Selbstmörder meist noch – freiwillig! – große Teile ihres Vermögens. Und für ihr Gewissen handeln sie mit den Abnehmern minimale Kollateralschäden der Aktionen aus.

Es könnte also alles gut laufen, wenn das Fernsehen nicht plötzlich über ein ungeplantes Attentat auf einen Flughafen berichten würde, bei denen ein Attentäter umkam und einer schwer verletzt wurde. Offensichtlich gibt es plötzlich eine Konkurrenz auf dem Markt, von der sie bisher nichts wussten. Denn jede Aktion dieser Art hatten sie bisher in Deutschland mitgeplant. Weitere Anzeichen und Ereignisse verstärken diesen Verdacht, so ein nächtlicher Einbruch in ihre Praxis.

Dann kommt ihr Mann eines Abends euphorisch nach Hause und berichtet von einem Investor, der in ihre Firma einsteigen will. Jetzt solle Britta auch einmal beruflich kürzertreten oder gar pausieren, damit er sich auf die Arbeit konzentrieren könne. Schließlich habe er ihr durch viele Hausmann-Tätigkeiten jahrelang den Rücken freigehalten. Kaum ist die eheliche Diskussion darüber etwas abgeflaut, steht eben dieser Investor plötzlich bei ihr in der Praxis und fordert sie unter dem Deckmantel der Fürsorge und der Unterstützung ihres Ehemannes unverblümt auf, mal ein oder zwei Jahre zu pausieren. Der Leser ahnt hier schon, dass es diesem Investor gar nicht um das Startup des Ehemannes geht.

Hastig baut Brittas Partner den Datenbankserver ab und sichert die Daten anderweitig, um einem entsprechenden Aktion der Gegner zuvorzukommen. Als am nächsten Morgen bei einem Einbruch wichtige Unterlagen verschwunden sind, beschließen die beiden, sich an einem verborgenen Ort zu verstecken. Dabei nehmen sie ihre neueste Suizid-Klientin mit, eine bildschöne junge Frau, die mit sehr klaren Vorstellungen gekommen ist und von vornherein auf einen Einsatz als Selbstmordattentäter aus war. Offensichtlich hat sich der wahre Hintergrund der Psychotherapeutischen Praxis in gewissen Kreisen längst herumgesprochen.

Jetzt beginnt der Showdown in einem einsamen Haus in der Lüneburger Heide, wo die drei möglichst unerkannt überleben müssen, bis sich die Aufregung gelegt hat. Schon hier wird allerdings nicht klar, welche Strategie die drei verfolgen. Sie sind in einer reinen Defensivposition, aus der es für sie keinen praktikablen Ausweg gibt. Doch Julie Zeh schickt dann doch den „Deus ex machina“, sprich den angeblichen Investor, der irgendwie ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hat und plötzlich vor der Tür steht. Daraus ergibt sich ein dramatisches Finale, das dann am Ende noch eine überraschende Pointe liefert.

Da der Roman schon einige Jahre alt ist und diese Pointe zumindest einige Fragen offenlässt, sei sie hier verraten. Der Investor ist in Wirklichkeit eine Geheimdienst-Agent, der Brittas wahre Tätigkeit entschlüsselt hat. Gleichzeitig überwacht er eine Gruppe ehemaliger Kunden ihrer Praxis, die Brittas Evaluation nicht bestanden haben und ihren suizidalen Attentatswunsch auf eigene Regie realisieren möchten. Sie wollen die „BBB“-Regierung durch einen gewaltsamen Putsch beseitigen und Angela Merkel wieder einsetzen. Britta erfährt das durch den Agenten, der auf ihre Mithilfe setzt. Britta aber entschließt sich, den Plan in letzter Minute an die Behörden zu verraten, woraufhin der Putsch trotz Tod dreier Attentäter – darunter die schöne junge Frau – scheitert.

Man fragt sich natürlich, warum Julie Zeh die undemokratische „Pseudo-AfD“-Regierung an der Macht lässt. Sicher nicht, weil sie deren Anhängerin ist, denn die Grundhaltung der Protagonistin Britta, die man in erster Näherung mit der Autorin gleichsetzen kann, ist gegen die „BBB“ gerichtet. Julie Zeh verzichtet auch auf eine Erklärung Brittas für ihre Handlungsweise und überlässt diese den Lesern bzw. Hörern. Das wollen wir hier nachholen und die Schlussfolgerung ziehen, dass Julie Zeh jegliche gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse ablehnt. Eine demokratisch gewählte Regierung ist rechtmäßig im Amt und darf auch nur wieder demokratisch abgewählt werden. Das wirft natürlich angesichts der durchaus demokratischen Wahl vom Januar 1933 viele Fragen auf und stellt letztlich sogar den Putschversuch vom 20. Juli 1944 in ein fragwürdiges Licht. Doch unterliegt diese Lösung der fiktionalen Freiheit im Rahmen eines Romans. Wahrscheinlich hat die Autorin gerade wegen dieser Ambivalenz auf eine Begründung für dieses Ende verzichtet.

Ulrike C. Tscharre liest den Roman einerseits mit hoher Eindringlichkeit, die dem Thriller-Charakter des Romans gerecht wird, andererseits mit einer gehörigen Portion untergründiger Ironie, die alle Personen dieses Romans auf moralische Distanz hält.

Das Hörbuch ist beim Hörverlag erschienen, umfasst 6 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 6 Stunden und 55 Minuten und kostet als Kindle-Version 9,99 Euro.

Frank Raudszus

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