Pianistisches Programm mit Pointe

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Kaum ist Igor Levit zu einem „alten“ – weil international renommierten – Star avanciert, steht das nächste Großtalent vor der Tür – und wieder ein gebürtiger Russe. Roman Borisov zählt erst 19 Jahre und hat sich bereits in die erste Garde der Pianisten gespielt. In Darmstadt gastierte er am 19. Januar 2023 mit einem stilistisch weit gefächerten Programm von Beethoven über Schumann und Brahms bis zu Prokofjew.

Der Abend begann mit Beethovens Klaviersonate Nr. 10, op. 14 Nr. 2 IN G-Dur. Normalerweise beendet ein Solist sein Vortragsprogramm mit einem Werk dieses musikalischen Schwergewichts, doch nicht Borisov. Das hat wohl mehrere Gründe, von denen einer in der Bedeutung dieses Werkes zu suchen ist. Es gehört nicht zu den meist gespielten Sonaten, wie etwa die „Apassionata“, die „Waldstein“ oder gar die letzten Sonaten. Dennoch ist eine Beethoven-Sonate stets ein Schwergewicht, und da muss am Ende des Programms schon ein entsprechendes Pendant stehen, um ein Ungleichgewicht zu vermeiden.

Roman Borisov

Borisov schlug bei dieser Sonate op. 14 Nr. 2 in G-Dur gleich einen leichten und lebendigen Ton an, der jedoch auch nachdenkliche bis versonnene Züge trug. Wer Beethoven-Sonaten nicht näher kennt, würde hier unter Umständen einen ganz anderen Komponisten vermuten. In der Durchführung wurde Borisov dann jedoch deutlich energischer und ließ den bekannten Beethoven erkennen. Den Marsch zu Beginn des zweiten Satzes interpretierte er eher kurz und knapp, weniger militärisch. Die erste Variation kam erst verspielt daher, wechselte dann zum Aufbegehren und endete im stillen Piano. In der zweiten markierte Borisov die irritierend verschobenen Taktschwerpunkten, die man auch als Ironisierung der militärischen Marschmusik verstehen kann, mit deutlichen Akzenten, wobei er jedoch jegliche satirische Zuspitzung vermied. Die dritte Variation schließlich kam bei ihm virtuos daher, mit schnellen Figuren der rechten Hand. Und der völlig überraschende „Solitär“-Akkord zum Abschluss hatte hier eher etwas Verschmitztes denn Protestcharakter, was man auch am spitzbübischen Lächeln des Solisten sehen konnte. Das Scherzo des Finalsatzes zeichnete sich bei Borisov durch die anfänglich weitgehende Auflösung der Metrik aus, die der Interpretation bewusst einen zerrissenen Charakter verlieh. Der änderte sich im mittleren Teil durch die gehäuften Triolen zum Verspielten, um schließlich ohne großen Schlussakkord mit drei tiefen Tönen zu enden. Das dieser Sonate offenbar nicht unbedingt kundige Publikum hielt das wohl für eine Generalpause und wartete auf eine Fortsetzung, da Borisov mit gesenkten Händen am Klavier sitzen blieb, und erst nach einer halben Minute setzte dann der Beifall ein. Man kann durchaus vernuten, dass Beethoven sein Publikum mit dieser Sonate ein wenig auf den Arm nehmen, zumindest aber dessen Erwartungshaltung unterlaufen wollte.

Fast ohne Pause wechselte Borisov mit einem Zeitsprung von nahezu vierzig Jahren zu Schumanns acht „Fantasiestücken“. Von der strukturell verankerten Klassik zu der eher Stimmungen assoziierenden Romantik. In ersten Stück ließ Borisov die Töne frei wie Fantasievögel fliegen, sozusagen früh-impressionistisch. Das zweite begann mit Aufruhr und wechselte mehre Male zwischen ruhigen und aufbegehrenden Stimmungen. Im dritten markierte Borisov den Titel „Warum“ durch deutlich betonte, aufsteigende Figuren, die – auch durch kleine Verzögerungen, – den Eindruck von Ratlosigkeit erweckten. Das vierte kam mal trotzig, mal ausweichend verspielt daher, während sich das fünfte, „In der Nacht“ benannt, durch breite Klangflächen auszeichnete, die das Unterbewusste des Traums widerspiegelten. Im sechsten plauderte und fabulierte der Solist mit vielen Tonworten mit dem Publikum, das siebente war ein einziges „Durcheinander“ von Läufen in der rechten und rollenden Bässen in der linken Hand, und das letzte, „Ende vom Lied“, bestand aus energischen Akkordketten und endete nach einer markanten Abschlussvorbereitung mit leisem Verklingen.

Borisov zeigte in diesen vielfältigen Stimmungsstücken seine Fähigkeit, die emotionale Grundstimmung, die gerade bei Schumann immer wieder auf subtile Weise wechselt, aufzuspüren und mit allen Feinheiten nicht nur wiederzugeben, sondern selbst zu gestalten.

Nach der Pause standen wieder kurze Klavierstücke auf dem Programm, dieses Mal von Johannes Brahms. Obwohl gut fünfzig Jahre nach Schumanns Stücken komponiert, ähneln sie diesen in ihrer Betonung der Stimmung, vor allem der Melancholie, wenn nicht Schwermut. Man muss sich hier die Bürger – um nicht zu sagen: Opfer – der Industrialisierung vorstellen, die der vermeintlich guten alten Zeit der Romantik nachtrauerten und sie kurzerhand mit der schwermütigen Spätromantik wiederzubeleben versuchten. Das erste Stück wirkt introvertiert, fast resignierend, und Borisov horchte jedem Ton einzeln und mit Bedacht nach. Das zweite Stück begann etwas lebhafter, gewann dann aber ebenfalls dunkelstimmige Züge, die selbst das einsetzende Liedthema nicht verdrängen konnte – und auch nicht sollte. Das dritte, erstes Dur-Stück, kam jedoch durchaus nicht fröhlich daher, und lebte vor allem von den markant vorgetragenen emotionalen Ausbrüchen. Das vierte schließlich fiel als ausgedehnte Rhapsodie etwas aus dem Rahmen und brachte – nicht zuletzt dank der Tonart Es-Dur – zum Abschluss mit fast majestätisch wirkenden Akkordfolgen Leben und Frische in diesen Zyklus.

Roman Borisov setzte hier seine Interpretationsarbeit an stimmungsgeladener Musik fort und zeigte dabei, dass er auch die Unterschiede zwischen Früh- und Spätromantik subtil zu markieren versteht.

Bleibt noch der krönende Abschluss des Abends. Dafür hatte Borisov Sergej Prokofjews Sonate Nr. 7 in B-Dur ausgewählt. Bei diesem im Jahre 1942 in der Sowjetunion entstandenen Stück stand der Komponist unter denselben Zwängen wie sein Kollege Schostakowitsch. Das System Stalin lehnte alle moderne Musik ab und forderte triumphale und staatstragende Töne. Das tat Prokofjew denn auch vordergründig, indem er mit marschartigen Rhythmen begann, die eine abweisende, militärisch bedrohliche Aura ausstrahlen. Dann beginnt eine nach innen gewendete Phase mit kontemplativen, zweifelnden Tönen, der zum Schluss des ersten Satzes wieder aufbrausende Passagen mit harten Akkorden und gnadenlosen Läufen folgen. Der zweite Satz beginnt getragen und nachdenklich und steigert sich dann zu einem breiten Forte. Ostinate Figuren künden von Schmerz und Leid, und erst gegen Ende kehrt die Kontemplation des Beginns zurück. Der dritte Satz ist eine einzige Treibjagd von Akkorden und Läufen, die man einerseits als triumphal, andererseits als brutal interpretieren kann. Letztlich ist dieser Finalsatz ein einziges Abbild des Krieges, und man kann durchaus unterstellen, dass Prokofjew seine bittere Ironie in dieser ambivalenten Weise verpackt hat. So konnten die Apparatschiks den Triumph darin sehen, während die kulturell eher bewanderten Zuhörer den Schrecken des Krieges an sich daraus ablasen.

Und das könnte auch der Grund gewesen sein, warum der Russe Borisov diese – politisch – ambivalente Komposition an den Schluss gestellt hat. Der Grund liegt heute, Anfang 2023, auf der Hand, da auch Borisov als international auftretender Pianist vor die Wahl gestellt ist, entweder Putins Kurs zu unterstützen oder ihn mit allen Konsequenzen zu verurteilen. Er könnte die selbe Wahl wie Prokofjew und Schostakowitsch getroffen haben und damit seinem Publikum eine Botschaft übermittelt haben. Wer weiß?

Der Beifall des Publikums fiel so kräftig aus, dass Borisov noch drei ausgesprochen virtuose Zugaben – u.a. von Rachmaninow und Horowitz – spielte, die die Zuhörer noch einmal zu begeistertem Beifall motivierten.

Frank Raudszus

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