Armen Avanessian: „Konflikt“

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Angesichts der derzeitigen (geo)politischen Lage verwundert es nicht, dass sich die philosophische „Branche“ grundsätzliche Gedanken zum Wesen des Konflikts macht. Der Verfasser des vorliegenden Buches versteht sich nicht nur als Philosoph und politischer Theoretiker, sondern auch als engagierter Linker. In letzterer „Funktion“ geht er – wie könnte es anders sein! – hart mit den gestandenen Größen seines Faches ins Gericht. Seiner Auffassung nach gehen die meisten seiner namhaften Kollegen von einem falschen, weil traditionellen Konfliktbegriff aus. Denen zufolge entstehen alle Konflikte (der Gegenwart) aus den in der Vergangenheit entstandenen Strukturen, sprich: Ursachen. In Wahrheit lägen jedoch die Konflikte in der Zukunft und müssten bereits jetzt „hergestellt“ werden, um rechtzeitig gelöst werden zu können. Natürlich verweist Avanessian dabei schon früh auf den Klimawandel als Paradebeispiel, ohne näher zu erklären, worin in diesem Fall der Fehler seiner Branche und der Politik liegt. Man kann zwar über das Ausmaß und die Energie von Maßnahmen diskutieren, nicht aber über das Bewusstsein dieses Problems, von unbelehrbaren „Querdenkern“ einmal abgesehen.

Schon früh rammt Avanessian ideologische Pflöcke ins Diskursfeld. Dem Philosophen Samuel Huntington, der Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ in den neunziger Jahren die Prophezeiung zukünftiger Konflikte entlang kultureller Grenzen entgegenstellte, wirft er erst die Naturalisierung solcher Konflikte in Gestalt sozusagen genetisch vorgegebener kultureller Eigenschaften vor und sodann – aus seiner eigenen Sicht folgerichtig – sogar Rassismus. In diesem Zusammenhang verpasst er Huntington sogar noch eine rechts-reaktionäre Aura, indem er dessen Ausführungen textlich eng verzahnt mit einer nur scheinbar sachlichen Abrechnung mit dem schon lange als rechtsnationaler Denker mit Nazi-Nähe eingeordneten Carl Schmitt. Diese sachlich nicht zu beanstandende Parallelität der Darstellung hat gerade deswegen etwas Perfides an sich.

Anschließend unternimmt Avanessian einen langen Marsch durch die Wissenschaft zum Thema „Konflikt“. Er beginnt mit der Immunbiologie und deren zwei gegensätzlichen Sichtweisen auf den Körper. Die eine geht von einem in sich harmonischen Körper aus, der sich nur gegen fremde und damit feindliche Eindringlinge wehren muss, die andere von einem Immunsystem, das permanent mit „inneren“ Feinden ums Überleben kämpft. Eine dritte, im Diskurs jedoch nicht maßgebliche Theorie sieht den Zweck des Immunsystems als eine produktive Aushandlung von Konflikten.

Die Absicht dieses Rückgriffs auf die Biologie entpuppt sich bald als ideologischer Schachzug, wenn Avanessian eine Übertragung dieser biologistischen Sicht auf die Psychologie und Soziologie erkennt und letztlich weiten wissenschaftlichen Kreisen eine naturalisierende Festschreibung von Konfliktherden zuschreibt. Das ist natürlich als wissenschaftliche Hypothese durchaus legitim, und selbst die polemische Markierung solcher naturalisierenden Sichtweisen als rückständig bis reaktionär wäre hinnehmbar, doch Avanessian geht noch weiter. In einem Kapitel über „cancel culture“, „cultural appropriation“ und „wokeness“ wirft er deren – angeblich weißen und männlichen – Kritikern in Umkehrung der Verhältnisse vor, mit andersartigen Meinungen und Kritik nicht umgehen zu können. Schließlich seien diese im Gegensatz zu den Betroffenen der erwähnten Begriffe in ihrer Existenz nicht gefährdet. Dass gerade die einschlägigen Aktivisten das Rede- und Publikationsrecht der Kritiker bis hin zu Tätlichkeiten bestreiten, unterschlägt er. Ebenso natürlich die Tatsache, dass die Aktivisten oft als selbsternannte paternalistische Vertreter der angeblich Betroffenen auftreten und selbst aus dem Kulturkreis der Angegriffen stammen.

Auch dem „Eurozentrismus“ widmet er einige Ausführungen und konstatiert mit nicht verhehlter Zufriedenheit dessen historisches Abklingen, ohne allerdings dabei die – geopolitischen – Alternativen für eine dominierende Weltinterpretation näher ins Auge zu fassen.

Im zweiten Teil untersucht Avanessian systematisch die neuere Philosophie-Geschichte auf ihre Interpretation des Konflikt-Begriffs. Kant sieht ihm zufolge den Widerspruch – sprich: Konflikt – bereits in der Logik, die für jede denkbaren Lösung auch das Gegenteil erlaube. Der Konflikt sei für Kant ein immanentes Element des menschlichen Daseins, mit dem man leben und umgehen müsse. Hegel erkenne ebenfalls das Grundsätzliche des Konflikts, sehe aber als Anhänger eines Fortschrittsglaubens den vernünftigen „Weltgeist“ letztlich als jeglichen Konflikt auf höherer, vernünftiger Ebene aufhebende Instanz. Bei Marx sieht Avanessian den Konfliktbegriff im Ökonomischen verankert und die Auflösung des strukturellen Konflikts in einer revolutionären Veränderung der entsprechenden Verhältnisse. Nietzsche setzte sich ebenfalls intensiv mit dem Wesen des Konflikts auseinander und sah ihn letztlich in der – schwachen – Natur des Menschen und in einer grundsätzlich konfliktbehafteten Welt begründet. Für Avanessian heiligte er den Konflikt als Grundkonstante des Lebens geradezu. Es folgt eine längere Abhandlung über Sigmund Freud, dessen Lehre vom Kampf des „Ichs“ mit dem Unterbewusstsein paradigmatischen Charakter besitzt, da der Konflikt gerade wegen des Un(ter)bewussten dem „Ich“ nicht bewusst wird. Erst die Therapie stellt laut Freud den Konflikt her, was natürlich Avanessians Argumentation unterstützt.

Von da an kommt der Autor auf zeitgenössische Konflikt-Strömungen zu sprechen und attestiert nahezu allen Konfliktstrategien, ob im psychologischen, im gesellschaftlichen oder politischen Raum, eine Neigung zum Konsens in Gestalt von Kompromissen, was für ihn jedoch Verdrängung, ja: gar Ignoranz bedeutet. Nur der stets präsente, lebendige Konflikt hat für ihn eine Chance auf echte Beilegung und damit seine Berechtigung. Neuere Strömungen unter dem Motto „stay with the conflict“ folgen dieser Strategie, allerdings fehlen Handlungsanweisungen, wie so eine „Erhaltung“ eines Konflikts aussehen soll. Für linke Logiker wie Avanessian liegt die – allerdings nur angedeutete – Lösung auf der Hand. Die vermeintlich unterdrückte Seite – divergente, aber gleichwertige Interessen werden ausgeschlossen – muss die Verhältnisse in ihrem Sinne aufgrund ihres moralischen Rechts ändern, notfalls mit Gewalt. Letztlich stellt Avanessian die These auf, dass nicht eine extern erstellte, „neutrale“ Theorie die Konflikte versteht und löst, sondern dass der Konflikt erst die Theorie schafft, ja: dass der Konflikt den Kern der Theorie darstellt.

Im dritten Teil wendet sich Avanessian ganz konkret den zukünftigen Konflikten zu, die es jetzt bereits im Vordergrund zu konstruieren und auszutragen gilt. Dabei fokussiert er seine Ausführungen natürlich auf Themen, die gar nicht so „zukünftig fern“ sind, nämlich Klima und Krieg. Denkt man an Klimakonferenzen oder Lützerath, so kann man schwerlich behaupten, dass der Klimawandel als Konflikt nicht erkannt oder gar verdrängt wird. Die Gegenmaßnahmen mögen unzureichend sein, doch der Konflikt ist täglich präsent. Ähnlich ist es aus naheliegenden Gründen mit dem Krieg, der für Avanessian völlig neue Züge annimmt. Für ihn führt der noch in den Anfängen steckende Cyberkrieg zu einer dramatischen Änderung der Machtverhältnisse und der aktuellen Kriegsführung, die nicht mehr (ausschließlich) auf offiziellen Kriegserklärungen und Einmarsch von Truppen beruhen wird, sondern anonym und oft unerkannt aus einem scheinbar friedlichen Kontext erfolgt. Der Ukraine-Krieg widerlegt diese Sicht zwar aus aktueller Sicht, aber grundsätzlich ist Avanessian in dieser Hinsicht Recht zu geben.

Ein weiteres konfliktreiches Thema ist für ihn die Digitalisierung. Er sieht die kapitalistische Macht der – physischen – Produktionsverhältnisse hinüberwandern zu der Verfügungsmacht über Daten. Dabei stellt er die Frage, wem die – von der KI verarbeiteten Daten – eigentlich gehören. Wie Marx den Kapitalisten als Ausbeuter der produktiven Arbeitskraft des Proletariats betrachtete, so sieht Avanessian die großen IT-Giganten – GAFA – als Ausbeuter der menschlichen Daten und damit letztlich seiner Identität. Daran ist einiges wahr, und Avanessian sieht auch richtig, dass dieser Konflikt noch nicht richtig verstanden ist, betrachtet man doch die Internet-Plattformen weitgehend als nützliche Dienstleister.

In diesem Zusammenhang verweist Avanessian auch auf die Künstliche Intelligenz (KI), die für ihn einen Qualitätssprung bedeutet, da Programm und Daten nicht mehr getrennt sind, sondern in der KI eine untrennbare Einheit bilden. Für ihn sind die Daten – Big Data – die KI und die KI ist die Daten. Damit droht sich die maschinelle Intelligenz über die der Lebewesen zu setzen und diese stetig zu entrechten.

Aus all diesen Gründen fordert Avanessian ein planetarisches Vorgehen. Für ihn haben die Nationalstaaten ausgespielt, da etwa die Finanzindustrie die Geldströme und damit die Investitionen dank der Globalisierung beliebig über alle nationalen Grenzen verteilen und dirigieren kann. In diesem Zusammenhang sind auch neue politische Subjekte zu schaffen, das heißt: auch die Rechte anderer Lebewesen wie Tiere und Pflanzen – bis hin zu Mikroben und KI-Systemen! – zu beachten. Der Mensch darf sich in seiner Behandlung der (Um-)Welt nicht länger zynisch auf die biblische Botschaft „mache dir die Erde untertan“ (Zitat vom Rezensenten) abstützen.

Das kling alles sehr nachvollziehbar und im moralischen Sinne engagiert. Doch leider bleibt Avanessian Vorschläge der Umsetzung schuldig. Wie eine planetarische Organisation angesichts der aktuellen Machtverhältnisse aussehen könnte, bleibt schleierhaft. Wenn Avanessian außerdem beklagt, dass die politische Aushandlung und Moderation von Konflikten auch im Kontext der Interessen der (mächtigen) Moderatoren stehe, dann muss man ihm zustimmen. Allerdings beziehen sich die Anmerkungen zu konkreten Fällen ausschließlich auf die bekannten weltweiten Interventionen und Aktionen der USA. Dadurch entsteht der Eindruck, dass ausschließlich die USA (und der kapitalistische Westen) kompromisslos ihre Interessen vertreten. Der – allerdings noch frische – Ukraine-Krieg wird zwar einige Mal durchaus als Aggression erwähnt, aber nicht näher beleuchtet. Ansonsten gibt es für Avanessian in diesem Buch weltweit keine Großmacht mit expansiven Interessen außer den USA. Im Fernen Osten nichts Neues!

Dieses Buch eröffnet viele neue Perspektiven auf das Wesen des Konflikts, sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher und politischer Gestalt. Allerdings bekennt sich Avanessian von Anfang an zu der antikapitalistischen und damit implizit anti-westlichen Sicht des gestandenen Linken, ohne eine Alternative zu benennen. Interessanterweise erwähnt er den Sozialismus als solchen mit keinem Wort, und alle sich als nicht-kapitalistisch und nicht-westlich-demokratisch gebende Staaten, deren konkretes politisches Handeln nicht in sein Bild passen, finden einfach keine Erwähnung. Das führt zu einer ideologischen Einseitigkeit, die dem ansonsten lesenswerten Buch schadet. Außerdem nervt die penetrant forcierte Gendersprache mit ihren verwirrenden und fehlleitenden Zuweisungen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Das Buch ist im Ullstein-Verlag erschienen, umfasst 397 Seiten und kostet 24,99 Euro.

Frank Raudszus

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