Die haitianische Schriftstellerin Yanick Lehans (geb. 1953 in Port-au-Prince) ist bei uns bisher wenig bekannt. Jetzt hat der Litradukt Verlag ihren bereits 2014 auf Französisch erschienenen Roman „Bain de Lune“ unter dem deutschen Titel „Mondbad“ herausgegeben. Lahens Roman „Sanfte Debakel“ ist bereits 2021 bei Litradukt erschienen.
Yanick Lahens ist in Paris aufgewachsen und hat dort Literaturwissenschaft studiert. Nach dem Studium kehrte sie nach Haiti zurück und unterrichtete als Professorin an der Universität von Port-au-Prince. Lahens besonderes Interesse gilt der Geschichte Haitis, mit Schwerpunkt auf den Folgen der Sklaverei. Heute setzt sie sich zudem im Kampf gegen den Analphabetismus in Haiti ein.
Der Roman „Mondbad“ verfolgt an der Geschichte zweier Familien in einem kleinen Dorf an der Küste die politischen und kulturellen Lebensbedingungen in Haiti. Dabei gilt Lahens besonderes Augenmerk den armen, abgehängten Bevölkerungsgruppen.
Den Großteil der Bevölkerung Haitis stellen die Nachkommen der im 17. Jahrhundert als Sklaven aus Westafrika verschleppten Menschen. Der Roman umfasst die Zeit von den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die 10er Jahre des 21. Jahrhunderts, d.h. etwa bis zur Zeit des großen Erdbebens von 2010, das im Roman als schwerer Orkan erscheint.
Die Handlung des Romans verläuft auf zwei Zeitebenen. Den wesentlichen Teil der Handlung nimmt die Geschichte der bäuerlichen Großfamilien Lafleur und Mesidor über fünf Generationen ein. Die Entwicklung dieser beiden Familien verläuft jedoch konträr.
Noch in den 60er Jahren kann die Familie Lafleur wie andere Kleinbauern ihr eigenes Land bewirtschaften und durchaus auskömmlich von Kaffeeanbau und Fischfang leben. Der Stammvater ist noch eine anerkannte Respektsperson im Dorf. Die Familie Mesidor dagegen bringt die Kleinbauern nach und nach um ihr Land und kommt auf diesem Wege zu erheblichem Reichtum, die Männer schrecken dabei vor Betrug und Mord nicht zurück. Obwohl sie alle der afrikanisch-stämmigen schwarzen Bevölkerung angehören, entwickelt sich im Dorf eine Zweiklassengesellschaft, in der die Mesidors rücksichtslos Macht ausüben. Die Frauen werden nach Belieben vergewaltigt und geschwängert, ein Mesidor nimmt sich auch ein ganz junges Mädchen, wenn es ihm gerade gefällt. Die Ehefrauen nehmen es hin, dass es oft mehrere Nebenfrauen gibt.
Die Not zwingt die Familie Lafleur, das ihnen verbliebene Land so auszubeuten, dass es kaum noch etwas trägt. Auch das Meer gibt immer weniger her, so dass es für die Väter immer schwieriger wird, die Söhne oder Enkel für die traditionelle Arbeit zu gewinnen. Es sind die Frauen, die versuchen, die Familie zusammenzuhalten, aber auch ihnen gelingt es immer weniger, den Sehnsüchten der Kinder und Enkel nach einem besseren Leben zu begegnen. Als dann schließlich das Radio im Dorf Einzug hält, treibt es einen Sohn und eine Tochter der dritten Generation in die Ferne, sie verschwinden einfach, entweder in die USA oder in die Dominikanische Republik.
Mit der seit 1957 herrschenden Duvalier-Diktatur bieten sich neue Möglichkeiten, der Armut zu entrinnen, wenn man sich dem System unterwirft. So schließt sich auch ein Sohn der Familie Lafleur den als Polizei fungierenden Schlägertrupps im Dorf an, um auf der untersten Ebene für sich eine Machtposition zu erringen. Die meisten Familienmitglieder sind wie alle Kleinbauern ungebildete Analphabeten. Schulbesuch ist für die Kinder nur für sehr kurze Zeit möglich, weil sie bei der Feldarbeit helfen müssen. Von den politischen Verhältnissen begreifen die Menschen nichts. Der Diktator „Papa Doc“ Duvalier ist für sie der Doktor mit der großen Brille, der im fernen Port-Au-Prince alles regelt. Ihnen bleiben Angst und Flucht in die aus Afrika überkommene Voodoo-Religion, die sie irgendwie mit ihrem nach außen getragenen Katholizismus verbinden.
Die mächtigen Großgrundbesitzer der Mesidor-Familie hingegen können sich mit der Duvalier-Diktatur arrangieren und ihre wirtschaftliche Macht weiter ausbauen.
Als in den 80er Jahren die „Partei der Mittellosen“ des Armenpfarrers Aristide Hoffnung auf ein besseres Leben verspricht, engagieren sich auch Söhne des Dorfes für den Kampf gegen die Herrschaft der Duvaliers. Tatsächlich gewinnt die neue Partei die Wahlen (1990). Aber statt der großen Erneuerung herrscht politisches Chaos. Im Dorf kommt es zu einem schrecklichen Lynchmord an dem Sohn der Familie Lafleur, der sich den Schlägerbanden angeschlossen hatte.
Ein wenig Hoffnung gibt es am Schluss, als einer der Söhne aus den USA zurückkehrt und sich in seinem Heimatdorf für Aufklärung, schulische Bildung und Alphabetisierung der Erwachsenen einsetzt.
Die Geschichte wird von einer Erzählerin oder einem Erzähler erzählt, die oder der nicht eindeutig zu identifizieren ist. Sie oder er berichtet über die Ereignisse aus der Sicht des Kollektivs aus einer Beobachterposition in der ersten Person Plural. Die Erzählerfigur ist jemand, der oder die über die Vergangenheit recherchiert hat, aber auch selbst Zeuge der Ereignisse der Gegenwart ist oder gewesen ist. Hier will jemand die Welt von dem Schicksal der Menschen von Haiti wissen lassen, die Wohlhabenden und Gebildeten in anderen Teilen der Welt aufrütteln, sich für diese Menschen und dieses Land zu engagieren.
Parallel zu dieser Handlung erfahren wir von dem Schicksal einer Tochter der fünften Generation. Sie ist mit beiden Familien verwandt, denn ihr Vater ist das Kind einer unehelichen Beziehung zwischen einem Mesidor und einer Lafleur. Seine Mutter hat das Dorf verlassen und ist nie zurückgekehrt, er selbst wuchs bei den Großeltern Lafleur auf.
Diese Tochter wächst mit neuen Hoffnungen auf, sie kann zur Schule gehen und träumt von einem ganz anderen Leben, von der großen Liebe, von Wohlstand und Glück. Schon als Kind zieht sie die Weite des Meeres wie ein Versprechen an. Mit ihrem Bruder schwimmt sie gegen den Willen ihrer Familie weit ins Meer hinaus und erlebt das als Freiheit.
Wir hören sie in immer wieder eingeschobenen Kapiteln selbst sprechen. Es bleibt lange unklar, wessen Stimme wir dort vernehmen. Es ist eine junge Frau, die ans Meeresufer gespült wurde, die von einem Mann missbraucht und bedroht wurde. Ihr geht ihr ganzes junges Leben durch den Kopf. Es ist lange unklar, was mit ihr passiert ist, bis sich herauskristallisiert, dass sie offenbar die Warnungen des Lehrers vor einem schweren Orkan missachtet hat und nicht wie die Freundinnen nach Hause gelaufen ist. Erst ganz zum Schluss wird die ganze Tragik des Geschehens klar. Die Zeitangaben im Text verweisen auf die Zeit um 2010, als Haiti von einem verheerenden Erdbeben getroffen wurde.
Yanick Lahens macht am Schicksal dieser Tochter das weiterhin schutzlose Leben haitianischer Frauen der armen Bevölkerungsgruppen sichtbar.
Der Roman stellt hohe Anforderungen an die Leserinnen und Leser, die sich vermutlich nicht viel besser mit der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Geschichte Haitis auskennen als die Rezensentin. Lahens schafft mit ihrer komplexen Erzählung, die ganz nahe an den Menschen dieses Landes orientiert ist, die Möglichkeit, einen neuen Blick auf diese uns weitgehend unbekannte Welt zu entwickeln. Das ist ein ganz großes Verdienst der Autorin. Man sollte sich allerdings als Leserin oder Leser unbedingt Hintergrundwissen über Haiti verschaffen, um die Zusammenhänge des Romans richtig einordnen zu können.
Gut ist, dass Lahens an das Ende den Stammbaum der beiden Familien setzt, so dass man sich als Leserin in dem Labyrinth der Generationen und familiären Verknüpfungen zurecht finden kann.
Lob verdient auch die Übersetzerin Jutta Himmelreich, der es gelingt, die Gefühlswelt, die kulturellen Denkmuster und das magische Denken dieser Menschen auch im Deutschen zu veranschaulichen.
Ich habe den Roman mit großem Interesse, aber auch mit großer Betroffenheit gelesen.
Yanick Lahens, Mondbad, aus dem Französischen übersetzt von Jutta Himmelreich. Litradukt Literatureditionen 2025, 217 Seiten, 18,50 Euro.
Elke Trost
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