Yasmina Reza: „Die Rückseite des Lebens“

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Von Yasmina Reza haben wir im Laufe der Jahre so viele Theaterstücke und Romane vorgestellt, das sich eine vollständige Auflistung erübrigt. Daher sei hier nur an „Der Gott des Gemetzels“ und „Glücklich die Glücklichen“ erinnert. In dem neuen Buch „Die Rückseite des Lebens“ schlägt sie einen anderen Weg ein, indem sie sich nicht mit fiktiven Geschichten und Personen beschäftigt, sondern mit der oftmals traurigen Realität des Lebens.

Das (Hör-)Buch besteht aus einer Sammlung meist kurzer Geschichten, die Yasmina Reza hauptsächlich aus Gerichtsverhandlungen entlehnt hat. Die dort „aufgeführten“ Dramen sind oftmals zwar tragisch, da dabei Mord und Totschlag eine Rolle spielen, aber auch banal und makaber, da die jeweils schuldig Gesprochenen eben nicht die sorgsame dramaturgische Gestaltung im Sinn hatten, sondern eher profanen Gewinn oder Verzweiflung bis zum (Selbst-)Hass. Yasmina Reza enthält sich in ihrer Aufzählung der unterschiedlichen Justizdramen jedoch eines eigenen Urteils, da dafür einerseits das jeweilige Gericht zuständig war und andererseits die Taten und die Ausführungen der Angeklagten für sich sprechen. In gewisser Weise verurteilen sich die Angeklagten ein zweites Mal aus eigenem Munde, ohne es selbst zu merken. Im Laufe der unterschiedlichen Erzählungen schält sich die Erkenntnis heraus, dass viele Straftäter bis zum Schluss an die eigene Unschuld glauben, sei es aus ihrer eigenen, verqueren Weltsicht heraus, sei es, dass sie ihre Tat für die Wiederherstellung einer vermeintlichen Gerechtigkeit halten, sei es, dass die ihre Schuld vor sich selbst so weit bagatellisieren, dass es keine mehr ist.

Da ist zum Beispiel der Unternehmer, der älteren Damen ihre Häuser oder Wohnungen abkauft und sie im Sinne von Nießbrauch dort wohnen lässt. Er kümmert sich rührend um sie, besucht sie öfter und zeigt sich zu Ehrentagen großzügig, bis die Damen dann – vermeintlich an Altersschwäche – sterben. Bis jemand Verdacht schöpft und die Obduktion Atropin zutage fördert. Als man anschließend andere Todesfälle in seinem Immobilienbestand untersucht, kommt es Schlag auf Schlag.

Daneben kommen immer wieder die kleinen Dramen und Tragödien des Alltags vor Gericht. Meist fördert eine finanzielle Schieflage kriminelle Gedanken, und die Hoffnung auf Nichtentdeckung ermutigt die jeweiligen Täter, bis sie dann doch vor irgend einem Pariser oder anderen Strafgericht stehen. Yasmina Reza zeichnet mit diesen vielen kleineren Fällen ein literarisches Wimmelbild der gesellschaftlichen Verlierer, die ihren sozialen Absturz nicht akzeptieren wollen.

Yasmina Reza unterbricht die gerichtlichen Szenen regelmäßig und erzählt von kleinen häuslichen Erlebnissen bewusst harnlosen Charakters, etwa, wenn ihre kleine Enkelin nachts nicht allein schlafen will oder wenn gute Freunde mit ihr über das Leben und dessen Wechselfälle reden. Doch das sind nur Versuche, die Dichte und Schwere der einzelnen Gerichtsfälle aufzulockern.

Ein besonders tragischer Fall handelt von einer Frau, die sich und ihre beiden Töchter aus Verzweiflung umbringen wollte, jedoch nur in einem Fall „erfolgreich“ war. Ein tyrannischer Vater und eine resignierte Mutter hatten sie früh in eine schlechte Ehe getrieben, die bald wegen Gewalttätigkeit des Mannes endete, worauf die Frau sich wieder in die elterliche Hölle retten musste und schließlich nicht mehr ein noch aus wusste. Yasmina Reza beschreibt mit nüchterner Eindringlichkeit die unzumutbare Gerichtsverhandlung, die die Angeklagte schließlich in den Wahnsinn treibt.

Man hätte die einzelnen Fälle im Hörbuch vielleicht mit Musik oder etwas voneinander trennen können, um den Zuhörern die Gelegenheit zu einem sanfteren Übergang zu geben. So folgt auf das oft bedrückende Ende einer Verhandlung sofort die Einleitung zur nächsten. Im Buch mag das gehen, da man das Buch aus der Hand legen kann, im Hörbuch jedoch folgt ohne Pause das nächste Verlierer-Drama und schafft im Kopf des Zuhörers nicht nur Verwirrung, sondern auch eine depressive Grundstimmung. Wir mussten während der Autofahrt alle zwanzig Minuten abschalten, um uns innerlich wieder zu sortieren.

Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst 317 Minuten Hörzeit und ist bei Thalia oder Audible im Mietmodus zu erwerben.

Frank Raudszus

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