Die Psychoanalytikerin und Kinder- und Jugendtherapeutin Nelia Schmid König widmet sich in ihrem Buch „Analoge Eltern- digitale Kinder“ den besonderen Herausforderungen an die Erziehung in einer Zeit der zunehmenden Digitalisierung.
Die Autorin wendet sich an alle Eltern, ganz gleich, ob sie noch ganz kleine Kinder haben oder schon größere oder Jugendliche. Sie nimmt ihre Leserinnen und Leser an die Hand auf ihrem Gang durch die Entwicklungsgeschichte von Kindern. Dabei geht es ihr um die Bedeutung der Entwicklung von Beziehungsfähigkeit, die schon im Säuglingsalter beginnt.
Nelia Schmid König ist dabei erfreulich undogmatisch und eher pragmatisch an der Erziehungswirklichkeit als an unerfüllbaren Idealen orientiert. So betont sie die Wichtigkeit des ersten Lebensjahres, das die Grundlagen für die soziale Entwicklung des Kindes schafft. Hier gehe es darum, dem Kind eine stabile Mutter-Kind-Dyade zu bieten (Mutter steht hier für eine feste Bezugsperson), denn die ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind sich weiteren Beziehungen öffnen kann. Das heißt für sie jedoch nicht, dass die Mutter ihre eigenen Bedürfnisse ganz zurückstellen müsse. Im Gegenteil, eine Mutter, die fähig ist, das Kind auch loszulassen, öffne ihm erst weitere Entwicklungsschritte.
Große Gefahren sieht Schmid König in der zunehmenden elterlichen Praxis, schon den Säugling mit einem digitalen Medium wie Handy oder Tablet ruhigzustellen. Damit werde das Gerät zum Ersatz-Bezugsobjekt, was die emotionale Bindung an eine mit Gefühlen ausgestattete menschliche Bezugsperson schon früh behindere. Hinzu komme, dass viele Eltern selbst zu viel mit ihren Handy beschäftigt sind, statt mit ihren Kindern zu sprechen. Das behindere nicht nur die emotionale Entwicklung, sondern auch die Sprachentwicklung.
Schmid König weist auf diese Gefahren hin, jedoch ohne moralisch oder belehrend zu werden. Ihr geht es nicht darum, die digitalen Medien zu verteufeln, vielmehr plädiert sie für einen kontrollierten Gebrauch.
Schmid König zeigt sehr eindringlich an Fallbeispielen aus ihrer eigenen therapeutischen Praxis, wie sich die erzieherischen Herausforderungen mit zunehmendem Alter des Kindes verstärken. Häufig sei es so, dass die Kinder den Eltern in der Nutzung der Angebote auf Foren wie TikTok weit überlegen sind, dass Eltern sehr häufig gar nicht wissen, was diese Foren ihren Kindern vermitteln. Eltern zögen sich dann zurück und überließen die Kinder den übermäßigen digitalen Einflüssen.
Hier hakt Schmid König ein. Es müsse allen Eltern ein dringendes Anliegen sein, mit ihren Kindern im Gespräch zu bleiben. Sie sollten sich selbst in diesen Foren informieren, was Kindern und Jugendlichen dort zugemutet wird. Eltern sollten Hilfestellung bieten bei der Einordnung der sonst unkontrollierten Beeinflussung ihrer Kinder. Das könne gelingen, wenn die Kindheit hindurch das verstehende Gespräch die Kinder begleitet hat und wenn beide Elternteile zulassen, dass ihr Kind sich von ihnen wegentwickelt und sich mehr und mehr an seiner Peergroup orientiert.
Wenn man die Kinder mit ihren Handys allein lasse, werde dieses zu einem dauernden Ablenkungsangebot, das die Kinder und Jugendlichen zu passiven Konsumenten macht. Wichtig für eine positive Persönlichkeitsentwicklung sei jedoch gerade die Erfahrung, etwas selbst schaffen zu können. Das stärke im Jugendalter, das sich durch die Suche nach der eigenen Identität definiert, das Selbstbewusstsein. Aus ihrer therapeutischen Erfahrung weiß sie, wie viele Jugendliche heute falschen Idealen nacheifern, die von Influencerinnen und Influencern verbreitet werden. Stärker als in früheren Jahren entwickle sich eine tiefe Unsicherheit bei vielen Jugendlichen durch das Gefühl, den – falschen – Idealen nicht zu genügen.
Da setzt Schmid König mit ihren Forderungen an Eltern, aber auch an die Schule an: Aufgabe sei es, die Jugendlichen zu eigener Aktivität zu ermutigen und ihnen damit die Erfahrung zu ermöglichen, dass sie etwas selber schaffen und bewirken können. Eltern von Jugendlichen sollten sich nicht überbehütend über ihre Kinder stellen, sondern sie entlassen, aber mit dem Zuhause immer einen sicheren Zufluchtsort bieten.
Besonders eindringlich schildert Schmid König, was die digitalen Foren bzw. der frühe Pornokonsum insbesondere mit den männlichen Jugendlichen machen. Sie lernen Sexualität in pornographischen Darstellungen meist nur als gewalttätig kennen, bei der es um die Unterwerfung des Mädchens/ der Frau geht. Viele Jugendliche hätten gar keine Vorstellung mehr davon, wie man eine zärtliche, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung aufbaut. Umso frustrierender seien deshalb häufig die ersten sexuellen Erfahrungen. Auch hier nimmt sie die Eltern in die Pflicht. Aufklärung heiße in der Jugend in der Tat nicht mehr, über den Geschlechtsakt zu informieren, vielmehr müssten Eltern die Sensibilität aufbringen, ihren unsicheren jugendlichen Nachwuchs bei dem Aufbau einer Beziehung zu unterstützen. Dazu müssten Eltern sich Zeit nehmen, Gespräche ermöglichen und – ganz wesentlich! – zuhören. So könnten sie ihren heranwachsenden Kindern helfen, sich zu öffnen, Fragen zu stellen, Rat zu suchen.
Ich kann dieses Buch nur allen Eltern dringend ans Herz legen. Auch wer meint, pädagogisch schon sehr beschlagen zu sein, wird hier neue Erkenntnisse oder Anregungen für das eigene elterliche Verhalten finden. Das Buch ist gut verständlich geschrieben, bedient sich nicht eines psychologischen Fachjargons. Wo doch Fachbegriffe notwendig sind, erklärt die Autorin sie in klarer Sprache.
Die Autorin spricht die Eltern immer wieder direkt an, gibt ihnen auch Unterstützung für die Reflexion ihres erzieherischen Verhaltens, indem sie wichtigen Kapiteln Fragen hinzufügt, die die Eltern für sich selbst beantworten können. Viele der angesprochenen Probleme veranschaulicht die Autorin mit Fallbeispielen aus ihrer eigenen therapeutischen Praxis. Hilfreich sind sicher auch die von ihr entworfenen fiktiven Eltern-Kind-Gespräche, die den Rat suchenden Eltern Leitfäden für die Gesprächsführung an die Hand geben, denn ungeschickte Gesprächsführung kann die Jugendlichen verprellen und eher zu deren Rückzug führen als zur Öffnung.
Insgesamt ist das ein notwendiges und sehr hilfreiches Buch für Eltern heute. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis lädt ein zu vertiefender Lektüre, wenn das gewünscht ist.
Nelia Schmid König, Analoge Eltern – digitale Kinder. Eine Herausforderung für Familien. Mabuse Verlag 2024, 218 Seiten, 24 Euro.
Elke Trost


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