Hermann Schein inszeniert im Staatstheater Darmstadt Henrik Ibsens „Stützen der Gesellschaft“

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Lügen haben lange Beine  

Hermann  Schein inszeniert im Staatstheater Darmstadt Henrik Ibsens „Stützen der Gesellschaft“
Henrik Ibsen veröffentlichte sein Theaterstück „Stützen der Gesellschaft“ im Jahr 1877, so dass man sich heute fragen könnte, inwieweit die damalige Gesellschaftskritik denn heute noch gültig sei. Schließlich sind wir heute um vieles toleranter und aufgeklärter als damals – oder meinen es zumindest. Doch bereits nach den ersten Szenen wird unmissverständlich klar, dass dieselbe Thematik uns auch heute noch unter den Nägeln brennt: die Frage nach der Integrität der Erfolgreichen und ihrem Umgang mit eigenen Fehlern. Man braucht nur in die Zeitungen zu schauen, wenn wieder einmal ein Korruptionsskandal – auch in Deutschland! – die Öffentlichkeit aufschreckt, um zu staunen, welche Argumentations- ud Rechtfertigungsstrategien zum Vorschein kommen.
Andreas Manz-Kozár (Johan Tonnesen), Christina Kühnreich (Fräulein Hessel), Matthias Kleinert (Konsul Bernick)
In Ibsens Stück rechtfertigt sich der Protagonist für seine Lügen und Vertrauensbrüche mit dem angeblichen Wohl der Allgemeinheit, das bei einem Geständnis gefährdet sei. Der Werftbesitzer Konsul Bernick ist der reichste und mächtigste Mann der kleinen Hafenstadt und herrscht über seine Firma und Familie mit der vordergründigen Attitüde des wohltätigen Patriarchen, in Wahrheit jedoch mit der harten Hand des Machtmenschen. Seine Frau betrachtet er – wie alle Frauen – als Diener der Männer und der Allgemeinheit, und den Vorarbeiter stellt er mit einer knallharten Entlassungsdrohung vor ein moralisches Dilemma, als dieser ein seeuntüchtiges Schiff nicht „auf die Schnelle“ nur oberflächlich reparieren will.

Das prächtige Bild des großen Patriarchen gerät ins Wanken, als Bernicks Freund Johan nach fünfzehn Jahren Exil in den USA zurückkehrt. Er war einst wegen eines in dieser prüden Kleinstadt untragbaren erotischen Fehltritts Hals über Kopf geflohen und hatte dabei angeblich noch einen größeren Geldbetrag aus Bernicks Werft entwendet. Jetzt erfährt der Zuschauer aus einem Gespräch der beiden ehemaligen Freunde, dass Bernick der eigentliche Übeltäter war und Johan die Schuld auf sich genommen hat, weil Bernicks finanziell angeschlagene Werft damals den Skandal nicht überstanden hatte. Johan ist entsetzt, als er feststellt, dass die angebliche Schuld einschließlich eines angeblichen Diebstahls immer noch an ihm klebt, sichert aber Bernick seine weitere Loyalität zu. Erst als die moralisch empörte Bevölkerung seine Heiratspläne mit einer jungen Frau des Ortes torpediert und Bernick immer noch schweigt, beschließt er, in Amerika seine Angelegenheiten zu regeln und zurückzukommen, um alles ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Als Bernick erfährt, dass Johan auf dem seeuntüchtigen Schiff einsteigen will, das nach einhelliger Expertenmeinung den ersten Sturm nicht überstehen wird, schweigt er erst recht und lässt Johan eiskalt in den Tod laufen. Doch das Schicksal will, dass die junge Frau sich im letzten Moment für Johan entscheidet und beide zusammen ein anderes Schiff nehmen, während sich Bernicks Sohn ausgerechnet auf dem Todesschiff als blinder Passagier versteckt.

Maika Troscheit (Fräulein Bernick), Gabriele Drechsel (Frau Bernick), Matthias Kleinert (Konsul Bernick)Die Katastrophe kündigt sich genau in dem Moment an, als Bernick öffentlich für sein Wohltätertum gefeiert werden soll und man eine Ansprache von ihm verlangt. In allerletzter Minute stellt sich heraus, dass Bernicks Frau ihren Sohn mit Hilfe des beinahe entlassenen Vorarbeiters befreit hat und dass Johan auf eine Rache verzichtet. Bernick ist gerettet und braucht seine Lügen und seine privaten Geschäfte auf Kosten der Allgemeinheit nicht einzugestehen. Dennoch entschließt er sich, in diesem Moment die Sünden seiner Vergangenheit in der Öffentlichkeit einzugestehen. Doch auch das ist eher ein taktischer Schachzug, um im Höhepunkt des Erfolgs die Wirkung des Geständnisses zu minimieren. Er ahnt, dass die Menschen dieses Eingeständnis eher als Läuterung betrachten und dank der Abreise des Hauptopfers Johan auch nicht mehr weiter nachfragen werden. Bernick bleibt für den Rest seines Lebens auf den Folgen seiner Lebenslügen sitzen. Er weiß, dass er nicht nur mit seiner Vergangenheit sondern auch mit seinen aktuellen geschäftlichen Aktivitäten massiv gegen das stets von ihm propagierte Gemeinwohl verstoßen hat und noch verstößt. Das Wissen um die eigene Schäbigkeit wird ihn innerlich zerfressen.

Das Stück leidet – aus heutiger Sicht – unter einer handlungsarmen Textlastigkeit. Außer Johans unerwarteter Ankunft geschieht bis kurz vor dem Ende nicht viel. Keine öffentlichen Anklagen, Tumulte oder aufbrechenden Konflikte, sondern nur Gespräche mit Erklärungs- und Rechtfertigungsversuchen. Immer wieder halten die Protagonisten entsprechende Reden aneinander. Lona Hessel, Bernicks ehemalige und auf miese Weie zugunsten der reichen Erbin abgelegte Geliebte, die mit Johan nach Amerika ging, schleudert Bernick berechtigte Vorwürfe entgegen, und dieser antwortet mit langatmigen Ausreden und fadenscheinigen Erklärungen, die sich alle um Sachzwänge, drohenden Firmenbankrott und schließlich Arbeitsplätze und Wohlstand der Stadt drehen. Diese Dialoge geraten bisweilen etwas zäh, was nicht an den Darstellern sondern an der Struktur des Stücks liegt. Dieser Eindruck mag aber auch daran liegen, dass heutige Theaterbesucher von Film und Fernsehen ein ganz anderes Handlungstempo gewohnt sind und längere Erörterungen schnell als langatmig empfinden. Die Frage, ob diese Änderung der Rezeptionsgewohnheiten als „dekadenter“ Fehler der modernen Medien oder als zwansläufige Entwicklung zu betrachten sei, lässt sich letztlich nicht entscheiden, denn man könnte auch darauf verweisen, dass das Leben heute halt nicht mehr so gemächlich wie vor hundertfünfzig Jahren ist und die damaligen Stücke damit grundsätzlich etwas behäbig wirken müssen.

EnsembleWie dem auch sei, Hermann Schein hat das Stück insofern etwas bechleunigt, als er auf eine Pause verzichtet und die Szenen ineinander übergehen lässt. Das verleiht dem Stück mehr Fluss und einen gewissen Spannungsbogen, der sich nur in Bernicks Rechtfertigungstiraden etwas abschwächt. Dazu hat Stefan Heyne ein Bühnenbild geschaffen, dass einerseits wie aus einem Bild von Caspar David Friedrich entlehnt zu sein scheint und andererseits die moralische Kälte dieser Gesellschaft widerspiegelt. Zackige, schräg aufsteigende und übereinander ragende Eisschollen dominieren den gesamten Bühnenraum unverändert über alle Szenen, und der Hintergrund leuchtet in einem eiskalten Blau mit Ahnungen von Schnee und Eis. Die Kostüme entsprechen weitgehend heutiger Mode, wobei jedoch durch dicke Jacken und Wollmützen noch einmal der Eindruck von Kälte verstärkt wird.

Das Ende gestaltet Hermann Schein ironisch, fast schon satirisch. Wenn Bernick am Schluss öffentlich über seine Vergangenheit zu reden anhebt, nimmt sein Gesicht einen entrückten Ausdruck an, und das Licht der Scheinwerfer legt sich so um sein Gesicht, dass es wie ein Heiligenschein wirkt. Die Moral der Geschichte: der Mächtige inszeniert selbst das Geständnis der eigenen Schuld und Schäbigkeit noch als moralische Großtat.

Die Darsteller entlocken diesem Stück eindrucksvolle und berührende Szenen. Matthias Kleinert gibt einen schillernden Machtmenschen, der stets nur das zugibt, was er nicht abstreiten kann, und sich ansonsten wie ein Chamäleon verwandeln kann: mal der weitsichtige Firmenlenker, der über Innovationen und langfristige Wettbewerbsfähigkeit zum Wohle des Ganzen nachdenkt, mal der knallharte Chef, der einen unliebsamen oder unbeugsamen Mitarbeiter kurzerhand rauswirft. Mal der joviale Familienpatriarch, der sich um alles kümmert, mal der eiskalte Haustyrann, der von seiner Frau schweigendes Dienen verlangt und seinen Sohn mit dem Gürtel verprügelt. Gabriele Drechsel spielt diese Ehefrau, die ihrem Mann vollständig vertraut und ganz in der von ihm verlangten Rolle aufgeht, mit der erforderlichen Zurückhaltung, lässt aber in emotionalen Ausnahmesituationen, so im Streit mit Lona Hessel oder in der letzten Szene, erkennen, dass sie auch anders kann, als sich ihre Figur emanzipiert hat.
Ein besonderer Aktivposten ist Maika Troscheit als Barnicks Schwester Martha, die dieser in seiner patriarchalischen Großzügigkeit in sein Haus genommen hat. Der Zuschauer ahnt schon aus ihrer Körpersprache, dass sie ein besonderes Verhöltnis zu Johan hat, und dann bricht es aus ihr heraus: Johan war ihre große Liebe, und sie hat fünfzehn Jahre lang auf ihn gewartet, nur um ihm dann ausgerechnet die Braut zuzuführen. Wie Maika Troscheit diese tragische Figur und ihr verschenktes Leben darstellt, weckt wirklich Betroffenheit.

Andreas Manz-Kozár spielt den Johan als lebensfrohen, fast naiven Menschen, der viel Langmut und Loyalität aufbringt und erst am Schluss mehr resigniert als empört zum zweiten Mal nach Amerika flieht. Christina Kühnreich gestaltet die Rolle der Lona Hessel als emanzipierte Frau, die durch die harte Schule der Selbstbehauptung in Amerika gegangen ist und sich kein X für ein U mehr vormachen lässt. Ihr Verzweifeln an Barnicks Sturheit trägt zum Schluss tragikomische Züge. Ihre Lona Hessel kann es nicht fassen, was aus dem einst geliebten Mann geworden ist. Ronja Losert überzeugt in der Rolle der Dina, die man als Waise einer per se moralisch fragwürdigen Schauspielerfamilie mit spitzen Fingern behandelt, sie aber in einem Akt moralischer Selbstbeweihräucherung als Arbeitskraft im Haus behält. Emotional verkümmert und unter der Last einer unmoralischen Mutter leidend verweigert Dina jeden engeren Kontakt mit ihrer Umgebung, bis Johans Ankunft aus Amerika ihr eine Perspektive eröffnet.
István Vincze spielt den bigotten und heuchlerischen Moralapostel Tønnesen, der gegen alles Andersartige und Neue seine Giftpfeile verschießt, Tom Wild den dynamischen Geschäftsmann Rummel und Sonja Mustoff dessen Frau. Aart Veder tritt als Vorarbeiter Aune auf, der vor die Wahl zwischen unredlicher Arbeit oder Arbeitsplatzverlust gestellt wird, und Gerd K. Wölfle spielt den Prokuristen Krap, der die Anweisungen seines Vorgesetzten kompromisslos umsetzt.

Weitere Aufführungen am 10., 14. und 23. März sowie am 7., 17. und 26. April

Frank Raudszus 

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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