Sehnsucht ohne Sentimentalität

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Grigorij Sokolov spielt beim Rheingau Musik Festival Chopin.

Der russische Pianist Grigorij Sokolov ist beim Rheingau Musik Festival ein alter Bekannter. Spätestens seit seiner Interpretation von Beethovens „Hammerklavier“-Sonate im letzten Jahr ist er allen Freunden des Festivals ein unauslöschlicher Begriff. Nach diesem großen Erfolg lag es nahe, diesen großen Pianisten auch dieses Jahr wieder einzuladen. Und er kam. Doch dieses Mal gab es infolge des Wiesbadener Unwetters Anfang Juli ein paar Probleme. Glücklicherweise eröffnete das gerade in die Sommerpause gegangene Staatstheater die Türen seines Großen Hauses, und so konnte das Konzert am vorgesehenen Termin stattfinden, wenn auch nur nach vorangehendem Kartentausch.

Grigorij Sokolov am Flügel

Grigorij Sokolov am Flügel

In diesem Jahr hatte Sokolov Chopin in den Mittelpunkt seines Programms gestellt. Wie viele seiner Zeitgenossen und unmittelbare Nachfolger Ludwig van Beethovens hatte Chopin erhebliche Probleme mit der Gattung der Sonate. Ob zu Recht oder nur subjektiv unter dem Eindruck der großen Beethoven-Sonaten, sei dahingestellt. Auf jeden Fall maß sich jeder Komponist an diesen Werken und verlor zumindest nach eigenem Empfinden. Doch Chopin hat drei Klaviersonaten geschrieben, die letzte davon in h-Moll im Jahre 1844, fünf Jahre vor seinem Tod. Zu diesem Zeitpunkt war Chopin vierunddreißig Jahre alt und litt schon seit langem an Tuberkulose sowie unter der Sehnsucht nach seiner polnischen Heimat, die er nach seinem Weggang im Jahr 1931 nicht mehr betreten hatte.

In der letzten Sonate ringt Chopin nicht nur mit seinen seelischen – und wahrscheinlich auch gesundheitlichen – Befindlichkeiten, sondern auch mit seinem Vorbild Beethoven. Obwohl sein Stil unverwechselbar bleibt, hört man immer wieder in den Kontrasten, den abrupten Wechseln und den geradezu eruptiven Ausbrüchen Beethoven heraus. Doch wenn man die Klavierwerke beider Komponisten gegenüberstellt, lässt sich sagen: Beethoven gestaltet, Chopin sehnt sich. Beethoven geht seine Krankheit auch musikalisch mit äußerstem Trotz an und bringt in seinen letzten Klaviersonaten ein gewisses „Dennoch“, wenn auch mit Etsagung unterlegt, zum Ausdruck. Chopin dagegen ist wesentlich stärker von der Romantik beeinflusst und drückt in seiner Musik eine unendliche Sehnsucht nach einem Ganzen, Einheitlichen aus, das sich nie fassen lässt und gerade deswegen zu existenzieller Trauer und Melancholie führt.

Der erste Satz beginnt weit ausladend, und Grigorij Sokolov markierte diese Geste mit einiger Deutlichkeit. Dann erhebt sich darüber eine lyrische Melodie, die zum wiederkehrenden „Markenzeichen“ dieses Satzes wird. Den weiteren Verlauf prägen scharfe Kontraste der Dynamik und der Harmonien, und Sokolov verdeutlichte in seiner Interpretation, dass Chopin eben nicht der Salonmusiker war, den vor allem das 19. und das frühe 20. Jahrhundert in ihm sahen, sondern dass er ein Komponisten voller innerer Spannungen und Brüche war, die sich vor allem in dieser Sonate niederschlugen. Der Beginn des Scherzos kam bei Sokolov in geradezu halsbrecherischem Tempo daher, wirkte aber dennoch nie martialisch. Den nachdenklichen Mittelteil spielte er konzentriert-verhalten als eine Innenschau, bevor dieser Satz in einem rauschenden Finale endete. Eine fanfarenähnliche Passage eröffnet den dritten Satz, der dann aber bald seiner Tempobezeichnung „Largo“ gerecht wird. Grigorij Sokolov modellierte die introvertierte, weltabgewandte Atmosphäre dieses Satzes Ton für Ton aus dem Material heraus und legte dabei Wert auf jeden einzelnen Anschlag. Dadurch entwickelte dieser ausgesprochen lange Satz eine düstere, fast endzeitliche Stimmung. Aus dieser Melancholie bricht dann der Beginn des Finalsatzes mit Macht aus. Expressive Akkordketten und  die ganze Tastatur durchmessende Läufe prägen diesen Satz, und wechselnde Motive anstelle einer systematischen Verarbeitung eines Hauptthemas bilden das strukturelle Gerüst. Dabei kehren einzelne Motive in Abständen wie ein „Leitmotiv“ wieder. Sokolov ließ keinen Zweifel daran, dass er diese Sonate in gewisser Weise als Chopins Vermächtnis betrachtet, und arbeitete die emotionalen Kontraste, das Aufbegehren, die Sehnsucht und die Entsagung in eller Konsequenz heraus. Seine Interpretation wirkte keinen Augenblick lang gefällig oder gar eingängig sondern verdeutlichte die inneren Kämpfe und seelischen Probleme des Komponisten. In Solokovs Interpretation bewegte sich Chopins letzte Sonate auf Augenhöhe mit Beethovens spätem Klavierwerk.

Höchste Konzentration....

Höchste Konzentration….

Wer dachte, nach der Pause gehe es mit den zehn Mazurken leichter und gefälliger zu, hatte sich geirrt. Jedes dieser Stücke weist seine ganz eigene, unverwechselbaren Eigenarten auf, die sich einer zu leichten Rezeption entziehen. Da ist die zarte, akzentuierte Struktur von op.68 Nr. 2, das rustikale Volksliedthema der folgenden Nr. 3, und dagegen stehen die nachdenkliche, ryhtmisch versetzte Mazurka op. 30 Nr. 1 und ihre Pendants – Nr. 2 und 3 – mit ihren weit ausholenden Gesten und dem fast martialischen Auftritt. Das op. 30 Nr. 4 kommt dagegen mit düsterer Schwermut daher und erzeugt Grabesstille. Davon erlöst das tänzerische, fast frohe  Opus 50 Nr 1 ein wenig, ehe die verhaltene, später markante Nr. 2 wieder ins melancholische Fahrwasser gerät. Den Höhepunkt dieses Zyklus bilden dann das op. 50 Nr. 3 und das op. 68. Nr. 4. Ersteres erinnert in den hingetupften Anfangstönen ein wenig an Bach, flackert dann kurz auf, wendet sich dann wieder nach innen und singt in einem langen, komplexen Gang der Motive das Lied der Entsagung. Ds Op. 68 Nr. 4 schließlich ist die Apotheose des Abschieds. Leise und resignierend endet diese letzte Mazurka, verabschiedet sich sozusagen ins Nichts.

Grigorij Sokolov arbeitete nicht nur die Unterschiede dieser nur scheinbar kleinen und beiläufigen Tanzstücke heraus, sondern zeigte auch ihre musikalische Struktur und vor allem ihre seelische Ausdruckskraft. Jede dieser Mazurken gerann bei ihm zu einem eigenen Kunstwerk, das man auch nach dem Konzert im Ohr behielt.

Das begeisterte Publikum überschüttete Grigorij Sokolov derart mit Beifall, dass dieser bereitwillig noch drei Zugaben spielte, und zwar Schuberts Impromptus Opus 90 Nr. 2, 3 und 4. Das war wohl überlegt, denn Sokolov zeigte damit die Nähe der beiden Klavierkomponisten, die eine Zeit gemeinsam die europäische Musikszene belebten, ohne sich gekannt zu haben. Doch viele Elemente in Chopins Klaviermusik sind in den vergleichbaren Werken Schuberts bereits angelegt, so die nur mit Tönen und Klängen ausdrückbare Sehnsucht nach etwas Unbenennbarem.

Frank Raudszus

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