Ibsens „Hedda Gabler“ im Staatstheater Darmstadt

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Das ausgehende 19. Jahrhundert trug bei aller bürgerlichen Wohlanständigkeit oder gerade wegen der alles regulierenden Konventionen die Sprengkraft einer neuen Zeit in sich. Dass diese sich nur über politische Groß-Katastrophen gegen alte Strukturen durchsetzen konnte, ist historisch gesehen verständlicher als es dem rational denkenden Menschen nachvollziehbar erscheint. In diese Zeit fallen auch die Dramen der Skandinavier Ibsen und Strindberg, die immer wieder den Ausbruch des Individuums gegen einen als starr und geradezu abtötend empfundenen Wertekatalog thematisieren. Besonders die Frauen litten darunter und fanden ihren Platz in verschiedenen Dramen und Trauer- spielen, wobei sie meist Opfer darstellten, die entweder langsam an den Umständen zerbrachen oder aber in einer so hilf- wie chancenlosen Revolte untergingen.

v.l.n.r.: Iris Melamed als Hedda Gabler, Susanne Burkhard als Frau Elvsted und Uwe Zerwer als Tesman

Mit Hedda Gabler hat Henrik Ibsen eine von dieser Vorlage abweichende Frauenperson geschaffen. Hedda ist nämlich in jeder Hinsicht privilegiert. Die von vielen Männern umschwärmte Tochter eines angesehenen Generals hat den jungen und ehrgeizigen Kulturwissenschaftler Jørgen Tesman geheiratet, der ihr die gewünschte Villa großen Zuschnitts sozusagen zu Füßen legt, in die das junge Paar nach einer ausgedehnten Hochzeitsreise einzieht. Doch Hedda ist alles andere als glücklich. Sie langweilt sich unsterblich, findet jedoch selbst keinen kreativen oder aktiven Weg aus dieser Langeweile. Während sich ihr bieder-jungenhafter Mann ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit widmet und in Hedda mehr eine schöne und angenehme Mitbewohnerin sieht, verlangt es Hedda nach dem großen, starken, freien Leben. Doch weder weiß sie wie dies aussehen soll noch wie es in die Tat umzusetzen ist. Die Erkenntnis ihrer Schwangerschaft wirkt wie ein Keulenhieb, sieht sie sich jetzt doch endgültig in das Gefängnis von Mutterschaft und Hausfrauendasein eingesperrt. Daher begegnet sie auch Jørgens Tante Julle, die den Jungen an Elternstatt aufgezogen hat und ihn abgöttisch wie ein eigenes Kind liebt, mit kalter Distanz und gönnt ihr nicht einmal das Du. Ja, sie setzt sogar gezielt kleine Gemeinheiten gegen die wortreiche Kleinbürgerlichkeit der einfachen Frau ein, die sehnsüchtig auf das erste Kind des jungen Paartes wartet.

Als ihre alte Schulfreundin Elvsted bei ihr aufkreuzt und um die wohlwollende Unterstützung des alten Bekannten Ejlert Løvberg bittet, horcht Hedda auf. Løvberg war ein genialer aber etwas haltloser Mensch, der sich nicht an Konventionen hielt und dem Alkohol verfiel. In Frau Elvsted jedoch, deren Kinder er im einsamen Norden unterrichtete, hat er eine Mentorin und Freundin gefunden und ein Buch geschrieben, dass in Fachkreisen Aufsehen erregt hat. Gerichtsrat Brack, der als alter Verehrer von Hedda immer noch ihre Nähe und entsprechende Gründe dafür sucht, teilt Tesman anschließend mit, dass die als sicher angesehene Professur für ihn wahrscheinlich erst in einem Wettbewerb mit eben diesem Løvberg vergeben wird.

Hedda Gabler steht nun vor einem doppelten Problem. Sie hat einst Løvbergs Unkonventionalität und seinen Mut zum Protest bewundert, aber nicht gewagt, sich die Liebe zu ihm einzugestehen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Der gesellschaftliche Skandal war schlimmer als der Verlust des bewunderten oder gar geliebten – kann Hedda eigentlich jemanden außer sich lieben? – Mannes. Jetzt droht sie einerseits wieder dem Einfluss dieses Mannes zu erliegen, andererseits stellt er eine reale Gefahr für ihre zukünftige Rolle als „Frau Professor“ dar. Und so beginnt ihr Drang zu Größe und Stärke in Hass und kalkulierte Rache umzuschlagen. Als Løvberg seinen Antrittsbesuch bei dem jungen Paar macht, spricht er sie bei der ersten Gelegenheit sofort auf alte Zeiten und ihre Liebe an. Halb wehrt sie sich, halb nicht, immer die im Hintergrund ahnungslos mit einander redenden Tesman und Brack im Auge. Wie auch Brack, den sie sich als potentiellen Verehrer durchaus warm halten will, möchte sie Løvberg wieder als treuen Verehrer einreihen, ohne ihm jedoch irgendein Vorrecht einzugestehen. Auf Schritt und Tritt kolli- diert der Wunsch nach dem die Moral sprengenden Ausbruch mit dem geradezu ängstlichen Festhalten an der bürgerlichen Fassade. Das Einzige, was sie sicher weiß und was der Zuschauer deutlich spürt, ist, dass sie ihren Mann und Vater ihres werdenden Kindes verachtet. Dabei ist Tesman durchaus kein reaktionärer Spießer wie die Ehemänner in anderen einschlägigen Dramen, sondern ein eher gutmütiger und durchaus integrer, seiner Wissenschaft ergebener Charakter, versteht jedoch von den Fallstricken der Erotik und der Intrige nachgerade nichts.

Sehr schnell erkennt Hedda, dass die unglücklich verheiratete Frau Elvsted Løvberg liebt. Also bringt sie die unliebsame Konkurrentin bei Løvberg in Misskredit, indem sie ihm vor Frau Elvsted von deren vertraulich erzählten Ängsten um ihn erzählt. Systematisch entfremdet sie die beiden voneinander, um so über beide Macht zu gewinnen, die, vereint, selbst eine für sie gefährliche Macht darstellen würden.

Achim Barrenstein (Brack) und Iris Melamed (Hedda)

Als Tesman nach einer durchzechten Nacht, an der sich neben Gerichtsrat Brack nun auch der von Heddas Intrigen desillusionierte Løvberg mit einem bewussten alkoholischen Rückfall beteiligt, mit dem Manuskript von Løvbergs neuem Buch nach Hause kommt, das dieser im Suff verloren hat, erkennt Hedda blitzartig ihre Chance. Das von Tesman überschwänglich als Jahrhundertwerk gelobte Manuskript, aus dem Løvberg am Vorabend vorgetragen hat, ist so etwas wie ein gemeinsames „Kind“ von Løvberg und Frau Elvsted. Damit könnten beide groß herauskommen und sich auch als Paar im Erfolg finden.

Als Tesman zu seiner sterbenden Tante eilt, verbrennt sie das Manuskript, das er ihr zur Aufbewahrung zwecks Rückgabe an den Autor überlassen hat. Als nach kurzer Zeit Løvberg in derangiertem Zustand auftaucht und den beiden Frauen – Hedda und Frau Elvsted – erzählt, er habe das Manuskript verbrannt, bricht seine Beziehung zur Elvsted endgültig auseinander, und diese verlässt seelisch vollständig zerstört das Haus. Auch als Løvberg der um die wahren Umstände wohl wissenden Hedda beichtet, er habe das Manuskript verloren aber dies der armen Frau nicht gestehen können – lieber Bösartigkeit als Nachlässigkeit -, bleibt Hedda eiskalt und bietet dem am Leben Verzweifelnden die Pistole ihres Vaters für einen „schönen“ Selbstmord. Wenn schon das Leben nicht die verlangte Größe gewährt, soll es zumindest der Tod tun. So kann sie ihn einerseits als großartigen Mann und heimlichen Geliebten verehren und ist ihn andererseits als bürgerlichen Konkurrenten ihres Mannes los.

Das Leben und Gerichtsrat Brack machen ihr jedoch einen Strich durch die Rechnung: denn einerseits stirbt Løvberg nicht in Schönheit, sondern im Bordell an einem ungeklärten Schuss in den Unterleib aus gerade dieser Pistole, andererseits malt ihr Brack die gesellschaftlichen Folgen aus, wenn sie vor Gericht als Zeugin neben der Bordellwirtin über die Herkunft der Pistole aussagen soll. Brack kann natürlich schweigen, aber nur zu der Bedingung einer einträchtigen „ménage à trois“ im Hause Tesman. Hedda, die weder den Skandal noch die Ohnmacht Anderen gegenüber ertragen kann – sie sagt einmal, dass sie Macht über Menschen ausüben möchte -, erschießt sich mit der zweiten Pistole ihres Vaters zu den erschrockenen und ungewollt ironischen Worten Bracks „Aber so etwas tut man doch nicht“. Also auch der Freitod stellt einen Skandal dar, den Hedda allerdings nicht mehr ertragen muss.

Regisseur Heinz Kreindl hat das Stück äußerst dicht inszeniert, so dass die Dauer von nahezu drei Stunden kaum spürbar wird. Nach einem eher verhaltenen Aufbau der Konstellation im ersten Akt baut sich die Handlung mit dem Aufeinandertreffen der verschiedenen Personen sehr schnell auf, und die Reibungen zwischen den einzelnen Charakteren werden deutlich, sei es zwischen Hedda und Brack oder Hedda und Løvberg. Dadurch, dass keine der Figuren zum Klischée erstarrt, selbst Brack zeigt zwar eitle und intrigante aber durchaus konturierte Züge, füllt sich das Geschehen mit Menschen statt mit Abziehbildern. Der gutmütige und nichts ahnende Hausherr Tesman wird nicht zur lächerlichen Figur degradiert, und selbst seine Tante Julle wirkt in ihrer kleinbürgerlichen Beflissenheit durchaus nicht als Parodie.

Bühnenbildner Peter Schuld hat dazu eine weite, offene Bühne geschaffen, die großbürgerliches Ambiente, aber mit den hellen Farben auch eine gewisse Kälte verströmt. Bewusst wurde auch hier auf das mittlerweile schon zum Klischee erstarrte Bild der kleinbürgerlichen Enge verzichtet, denn darum geht es hier nicht. Nicht die Enge ist das Problem sondern die Unfähigkeit, sich aus der echten oder vermeintlichen Umklammerung der Umwelt zu lösen und ein authentisches Leben zu wagen. Nicht die Umwelt oder die Gesellschaft werden hier angeklagt sondern die Schwächen im Individuum offen gelegt. Dass die Gesellschaft bei der Lebensgleichung eine wichtige Determinante darstellt, ist dabei natürlich unverkennbar….

Ein ganz wesentlicher Grund für diese gelungene Inszenierung ist in den Darstellern zu sehen, allen voran Iris Melamed. Ihr Hedda lebt von dem nuancenreichen Spiel der Darstellerin, ihrer Fähigkeit, mit einem Blick oder einer Bewegung der Mundwinkel oder der Nasenflügel Gefühlswelten offen zu legen. Iris Melamed beherrscht die Kunst zweier Gesichter: hinter dem höflichen, ja freundlichen Lächeln im Vordergrund lauern die zuckenden Mundwinkel, und der abgewendete Kopf, das kurze Senken des Blickes oder das rasche Wegsehen sprechen ihren Worten Hohn. Für Iris Melamed ist dies eine Paraderolle, die sie mit Bravour füllt. Neben ihr überzeugen vor allem Uwe Zerwer als gutmütiger und immer zukunftsfroher, aber lebensferner Tesman und Jürgen Hartmann als ein unkonventioneller und so impulsiver wie desillusionierter Løvberg. Susanne Burkhard spielt die Frau Elvsted mit viel zurück gedrängter Liebe und Begeisterung, die schließlich in namenlose Enttäuschung umschlagen, und Achim Barrenstein gab den immer korrekt gekleideten und redenden Brack mit viel Sinn für die Ironie und den Doppelsinn seiner Worte. Sonja Mustoff als Tante Julle und Sigrid Schütrumpf als Dienstmädchen Berte vervollständigen das glänzend aufeinander eingespielte Ensemble.

Das Premierenpublikum dankte allen Beteiligten mit lang anhaltendem Beifall.

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