Peter Zudeick: „Nietzsche für Eilige“

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Angesichts der stetig zunehmenden Bücherflut wird es für Leser mit einem breiten Interessenspektrum immer schwieriger, sich auf allen Wissensgebieten informiert zu halten. Da die neuen Wissensgebiete wegen ihrer rasanten Entwicklung einen immer größeren Raum einnehmen, wird es zusehends schwieriger, sich auch noch bei älteren Themen auf dem Laufenden zu halten, sei es nun Philosophie, Juristerei, Medizin oder auch Theologie. Der Aufbau-Verlag hat sich diesem Thema jetzt durch die Herausgabe verschiedener Bücher unter dem Titel „….für Eilige“ zugewandt. Im vorliegenden Band stellt der Autor Peter Zudeick ein Werk- und Personenprofil des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) zusammen.

Nietzsche stellt einen Sonderfall in der Entwicklung der Philosophie dar, unter anderem, weil er sich eher als Schriftsteller denn als Philosoph versteht. Gründliches Studium seiner Fachvorgänger verschiedener Epochen liegt ihm nicht, er argumentiert aus einem bestimmten Lebensgefühl heraus, das allerdings nicht unwesentlich durch seine eigene Sozialisation bedingt ist. Nach dem frühen Verlust eines autokratischen Vaters wächst er in einem bigotten Frauenhaushalt auf, der ihm schon früh entscheidende Ressentiments gegen Frauen allgemein einpflanzt. Nicht zuletzt diese Ressentiments beeinflussen dann auch stark seine Philosophie.

Zudeick kann natürlich in einer kompakten Abhandlung über das Phänomen Nietzsche keine detaillierte Sekundärliteratur zu den einzelnen Werken liefern. Er beschränkt sich mehr oder minder auf eine chronologische Darstellung von Nietzsches Werdegang und seiner Werke und untersucht letztere auf ihre wesentlichen Aussagen und eventuellen Widersprüche. Wer über Nietzsche wenig oder nichts weiß (wie der Rezensent), muss sich dem Autor und seinen Aussagen auf Gedeih und Verderben überlassen, will oder kann er nicht das tun, was zur detaillierten Würdigung erforderlich wäre: das Studium des Werkes selbst. So besteht natürlich prinzipiell die Gefahr, dass der Leser (Vor-)Urteile des Autors ungeprüft übernimmt. Doch die Gefahr einer sachwidrigen Indoktrination ist insofern relativ gering, als der Autor seine Ausführungen mit einer ruhigen Distanz angeht, deren Kritik sich über weite Strecken auf innere, nachvollziehbare Widersprüche des Werkes bezieht. Wo er inhaltliche Kritik übt, kommt diese mit Bedacht und aller zeitgebundenen Rücksichtnahme daher. Schließlich ist es immer leicht und billig, den Vertreter einer vergangenen Epochen nach den Maßstäben der klügeren(?) Nachgeborenen zu beurteilen, jedoch gerechter, ihn aus dem Zeitverständnis heraus zu bewerten. Bei Nietzsche jedoch stößt man mit der Toleranz auf Grenzen……

Zudeick weist erhebliche Widersprüche nach, die sich mal als Lernprozesse verkleiden, mal jedoch treulich neben ihrem Antipoden stehen bleiben. So wandelt sich Nietzsche vom Wagnerjünger zum Wagnerhasser, schreitet vom Anhänger des dionysischen Rausches zum entschiedenen Aufklärer und Anhänger einer positivistischen Wissenschaft voran, und kann gleichzeitig den bereits damals herrschenden Antisemitismus brandmarken und selbst – unbewusst? – den Grundstein für einen viel schlimmeren, künftigen Antisemitismus legen. Seine wesentliche Leistung liegt laut Zudeick darin, dass er die Aufklärung konsequent zu Ende gedacht hat und Gott damit hat sterben lassen („Gott ist tot!“). Es gibt laut Nietzsche keine transzendenten und teleologischen Ideen, das Dasein selbst ist der einzige Bezugsmaßstab. Und da in der realen menschlichen Existenz der Darwinismus herrscht, ist der Starke im Recht und der Schwache im Unrecht. Man darf letzteren also unterdrücken und notfalls auch vernichten!!! Nietzsche redet in diesem Zusammenhang von den „Gesunden“, den „Vornehmen“ und „Wohlgeratenen“ einerseits und von der verhassten, weil kranken und schwachen Masse andererseits und fordert die Einrichtung einer eindeutigen Zweiklassen-Gesellschaft. Dem ist nichts hinzuzufügen, wenn man ein halbes Jahrhundert vorausschaut…..

Obwohl Nietzsche eine sozialphilosophisch mehr als fragwürdige Weltauffassung vertritt und obwohl er sich selbst oft massiv widerspricht (der zeitlebens todkranke Nietzsche redet sich „gesund“, um nicht unter sein eigenes Krankheitsverdikt zu fallen), stellt er für Zudeick dennoch einen der wesentlichen Denker des 19. Jahrhunderts dar, alleine deswegen, weil er vieles zu Ende gedacht hat, was andere vor ihm nur angerissen haben. Außerdem hat er außerordentliche sprachliche Fähigkeiten entwickelt, die vor allem in seiner weitgehend unbeachtet gebliebenen Lyrik zum Ausdruck kommen. Dass sein 1889 einsetzender Wahnsinn – man vermutet eine Syphiliserkrankung als Grund – mit einem Größenwahn beginnt, in dem er sich als Inkarnation von Jesus, Napoleon und anderen Berühmtheiten bezeichnet, Königspaare zu sich einlädt, dem Papst Anweisungen erteilt und täglich führende Politiker und Berühmtheiten liquidieren lässt, ist als ironisches Apercu der Geschichte zu verstehen. Er verstirbt erst 1890 in vollständiger geistiger Umnachtung. Sein zu Lebzeiten belächeltes und schlecht verkauftes Werk hat jedoch danach eine außerordentliche Wirkung entfaltet, von der selektiven Adaption seiner Ideen durch Philosophen und Literaten bis hin zur kruden Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Denen hat er allerdings mit seinen „Übermensch“-Ideen auch eine Steilvorlage gegeben.

Das knapp 280 Seiten umfassende Buch ist im Aufbau Taschenbuch-Verlag unter der ISBN 3-7466-2124-0 erschienen und kostet 8,50 €.

Frank Raudszus

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