Bewegende Interpretation der Gretchen-Tragödie

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Charles Gounods Oper „Faust“ im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt

Verdichtet man Goethes „Faust“ auf den reinen Handlungskern, so landet man beim Lore-Roman: älterer Mann aus der Oberschicht will es noch einmal wissen, schwängert ein junges (und armes) Mädchen und lässt sie mit dem Kind sitzen. Dass er hierzu der Hilfe des Teufels bedarf, ist unbedeutend, weil viele Männer dies auch ohne Teufel schaffen. Dass sich Gretchen das Leben nimmt, ist weitgehend auf die zeitbedingten Moralvorstellungen zurückzuführen.

Mark Adler (Doktor Faust), Dimitry Ivashchenko (Méphistophélès)

Mit dieser zugegebenermaßen ein wenig provokativen Verkürzung des bedeutendsten Stoffes deutscher Geistesgeschichte stellt sich jedoch das Grundproblem für einen Opernkomponisten, der diesen Stoff vertonen will. Philosophische Überlegungen lassen sich schlecht in einer Oper ausdrücken, und die tragische Geschichte des geschwängerten Mädchens bringt allemal mehr (gerührte) Zuschauer als die abstrakte Philosophie. Also hat Charles Gounod sich in seiner Mitte des 19. Jahrhundert entstandenen Oper „Faust“ auf die Beziehungstragödie zwischen Faust und Gretchen – im Französischen Margarete – beschränkt. Das hat ihm schon bald nach dem Erscheinen der Oper vor allem in Deutschland – allen voran Richard Wagner – heftigste Kritik eingebracht. Auf der anderen Seite standen aber auch viele begeisterte Kritiken, die vor allem die kraftvolle und – für französischen Opern – gar nicht so typisch verspielte Musik lobten. Die deutsche Uraufführung fand übrigens 1861 in Darmstadt statt. Später wurde die Oper in Deutschland mit Rücksicht auf die deutschen Goethe- und „Faust“-Verehrer lange Zeit unter dem Titel „Margarete“ aufgeführt.

Knapp 150 Jahre nach der Darmstädter Uraufführung hat sich Regisseur Philipp Kochheim an diesen Stoff gewagt und dabei eine größtmögliche Annäherung an den Grundton des Goetheschen „Faust“ angestrebt. Von Beginn an vermeidet er bewusst den leichten Ton und stellt alle Figuren als ernstzunehmende Charaktere dar. Méphistopélès (Dimitry Ivashenko) tritt als gut gekleideter, smarter Geschäftsmann auf, der (fast) immer Contenance bewahrt und seine Gesprächspartner um den Finger zu wickeln weiß. Das beginnt mit seiner Beziehung zu Faust, die er anfangs nur unwillig einzugehen scheint, nur um dessen Gier nach zweiter Jugend und neuem Leben anzustacheln. Ähnlich verfährt er mit Marthe, die er unter Komplimenten von dem jungen Paar weglockt und sich den deutlichen Avancen der Witwe nur durch die Flucht entziehen kann. Fast könnte man meinen, Dimitry Ivashenko habe sich die „Faust“-Verfilmung mit Gründgens und Quadflieg angeschaut, so ähnlich wirkt er letzterem in seiner Mephisto-Darstellung. Margarete – oder sagen wir besser Gretchen? – lässt Kochheim als junge Göre mit Handy, MP3-Player und modischer Jungmädchenkleidung auftreten. Zu ihrer ersten Szene in ihrem Zimmer – „Es war ein König in Thule“ – erscheint sie sogar mit einem Fahrrad auf der Bühne und vergisst sogar nicht, dieses abzuschließen. Ganz so will die „coole“ Interpretation dieser Figur nicht mit der weiteren Handlung und dem Text übereinstimmen. Schließlich verfällt Gretchen dem verjüngten Faust auf den ersten Blick und lässt sich von seinem erotischen Säuseln regelrecht betäuben. Ihr laut Libretto – und da hält sich Kochheim teilweise in fast ironischer Weise an den Urtext – durch Religion und enge Moralvorstellungen geprägtes Weltbild („Wie hast Du’s mit der Religion?“) lässt sich nur mit einiger Phantasie auf das aufgeschlossene Mädchen abbilden, als das sie in Kochheims Inszenierung erscheint. Ähnliches, doch in andererem Sinne, gilt für die Einrichtung ihres Zimmers. Nun mag man diesen Punkt als sekundär betrachten, doch die ganz in rosa gehaltene Einrichtung und die puffartig-rote Rückwand des Zimmers passen weder zu einem selbstbewussten Mädchen der heutigen Zeit noch zu Goethes Gretchen. Anders Frau Marthe, die Kochheim erfolgreich in die Jetztzeit transportiert. Man sieht der aufgeblondeten Witwe in rotem Kostüm und Stöckelschuhen deutlich den Wunsch nach einer neuerlichen Bindung an, und diese Frau bändelt sogar mit dem Teufel an, wenn er nur stattlich genug aussieht.

Anja Vincken (Marguerite)

Den Faust interpretiert Kochheim als einen von verspätetem Lebenshunger, Frustration und – schlechtem Gewissen Getriebenen. Zwar folgt er Mephisto anfänglich bei allen seinen Ausflügen in die Halbwelt des Vergnügens und der schnellen Lust, doch am Ende, während der Walpurgisnacht – graust es ihn doch vor dem hohlen Treiben auf dieser wahrhaft höllischen Veranstaltung, die nur aus Zombies zu bestehen scheint, und er erinnert sich plötzlich an das verlassene Gretchen.
Wagner, bei Goethe noch enggeistiger Stichwortgeber Fausts, wird bei Kochheim zum Hotelportier und Barmixer, Gretchens Bruder Valentin bleibt er selbst, doch Siébel macht eine Ausnahme. Dieser, ein Freund von Valentin, liebt Gretchen heimlich, wagt jedoch nicht, ihr seine Liebe zu gestehen. Diesen Part des schüchternen Verehrer hat Kochheim mit dem männlichen Sopran Richard Crowe besetzt. Dieser Sopran ist nicht zu verwechseln mit einem Counter-Tenor, sondern eine eigene und sehr seltene Gesangsrichtung, die sicherlich auch entsprechende Voraussetzungen erfordert. Dass Crowe auch noch recht schmal gebaut und eher klein ist, macht ihn als schüchternen Verehrer noch glaubwürdiger. Ihm sind mehrere zentrale Szenen gewidmet, so wenn er in einer eigenen Arie über seine Liebe zu Gretchen singt. Genau genommen kann man in ihm die einzige positive Männergestalt in dieser Oper sehen: Mephisto – kein Kommentar, Faust – haltlos und spätpubertär, Valentin – besitzergreifend und moralisch-cholerisch. Nur Siébel zeigt so etwas wie Mitgefühl und Nächstenliebe.

In Kochheims Inszenierung sind denn auch Mephisto und Gretchen die eigentlichen Antipoden, obwohl sie nie miteinander reden. Bei Goethe schaudert es Gretchen vor diesem Mann, der ihr „in tiefer innrer Seele verhaßt“ ist. Mephisto seinerseits geht Gretchen ebenfalls aus dem Weg, weil er machtlos gegen ihre einfache und überzeugte Frömmigkeit ist. Über ihre gemeinsame Kontaktperson Faust agieren die beiden gegeneinander, wobei natürlich Gretchen von vornherein auf verlorenem Posten steht. Doch letzten Endes dominiert sie in ihrer Tragik und in der Entwicklung ihres Charakters die Oper, den in seiner Unsterblichkeit statischen Mephisto hinter sich lassend.

Chorszene

Eine bedeutende Abweichung von der „Werktreue“ sowohl Goethe als auch Gounod gegenüber erlaubt sich Kochheim am Ende: stimmig zum übergreifenden Themenbogen „Traum und Tod“ des Staatstheaters Darmstadt in der laufenden Saison lässt er Faust nach Gretchens Zusammenbruch und dem „Gerettet“ erwachen, nun wieder gealtert. Die ganze Geschichte erweist sich als bloßer Traum, und Faust greift zum zweiten und definitiv letzten Mal zur „einzigen Phiole“. Bei Kochheim folgt Fausts Freitod geradezu zwangsläufig auf den schrecklichen Traum von Hölle und Verdammnis. Die späte Pointe des Traums setzt übrigens auch die Premiere des Vorabends fort, in der mit Shakespeares „Sommernachtstraum“ ebenfalls diese somnambule Wesensart des Menschens zum Thema gemacht wurde.

Wer Gounod nicht kennt, den erstaunt dessen Musik zu dieser Oper. Als hätte der deutsche Geist des „Faust“ ihn bei der Komposition besetzt, nimmt seine Musik stellenweise beethovensche Züge an: markante Themen, kaum musikalisches Geplänkel, wenig von der typisch französisch-romantischen Lyrik. Die Musik zeigt durchweg einen ernsthaften, dem Thema angemessenen Charakter und keine Zeichen von tragischer Süße, was bei Gretchens Schicksal durchaus zu erwarten gewesen wäre. Dann wieder schwebt sie bei dem berühmten Walzer durch den Raum und beschreibt so auf treffende Weise Gretchens Beschwingtheit, nachdem sie sich in Faust verliebt hat. Dirigent Martin Lukas Meister arbeitet die Höhepunkte sauber heraus und lässt auch in den leisen Partien den Sängern immer ausreichend Raum zur akustischen Entfaltung, so dass man sogar teilweise dem französischen Text folgen konnte.

Dimitry Ivashchenko (Méphistophélès), Mark Adler (Doktor Faust), Anja Vincken (Marguerite)

Auf der Bühne glänzen vor allem die Protagonisten. Dabei ist in erster Linie Dimitry Ivashenko zu nennen, der nicht nur mit seinem in allen Lagen souveränen Bass den Raum füllt, sondern auch mit seiner schauspielerischen Präsenz das Bühnengeschehen gestaltet. Wo er auftritt, scheint sich das Geschehen automatisch um ihn zu verdichten und auf ihn zu konzentrieren. Wie bereits erwähnt, erinnert Einiges an ihm an Gustav Gründgens in ähnlicher Rolle, wenn auch ohne Gesang. Ironisches Zitat, wenn er sich in einer Szene mit seinen vier blonden Gehilfinnen aus seinem Reich wie Hugh Hefner auf dem Umschlagbild des „Playboy“ präsentiert. Nach ihm steht Anja Vincken im Rampenlicht. Sie glänzt vor allem durch ihre gesangliche Leistung, die sich besonders in den lyrischen Partien zeigt. Dagegen überzeugt sie schauspielerisch nicht immer, was aber auch an dem Regieeinfall gelegen haben mag, sie eher als selbstbewusstes Kind unserer Tage anzulegen. Mark Adler beeindruckt nicht nur sängerisch, wobei er in allen Lagen Kraft und Ausdrucksbreite zeigt, sondern auch darstellerisch, vor allem in den Eckakten, in denen er die Figur des Faust gestalten kann. In den mittleren Akten tritt er dagegen ein wenig in den Hintergrund. Werner Volker Meyer glänzt wieder einmal in den wenigen Szenen, die ihm als Valentin beschert sind, mit ausdrucksstarker und raumfüllender Stimme sowie glaubwürdiger Darstellung, Robert Crowe zeigt neben seinem stimmlichen Talent auch schauspielerische Qualitäten, die ihn als schüchternen Verehrer überzeugend wirken lassen. Irina Kalinina gibt eine wirklich gewiefte Marthe, die weiß, was sie will, und beherrscht auch ihren gesanglichen Part sicher. Hans-Joachim Porcher hat als Getränke mixender Portier nur noch wenig mit Goethes Famulus Wagner zu tun, aber löst auch diese Aufgabe souverän.
Der Chor musste sich bei dieser Inszenierung in vielfältiger Verkleidung bewähren, sei es als drogensüchtige Spaßgesellschaft in der Walpurgisnacht, sei es als die Gäste eines Nobelhotels, sei es Soldaten im Tarnanzug oder als eine Gruppe von Blinden, die sich mit weißen Stöcken und Sonnenbrillen auf der Bühne vorantasten. Aber wie immer ist der Chor auch in dieser Inszenierung hervorragend eingestellt und bildet das erforderliche optische und akustische Hintergrundbild.

Das Bühnenbild von Thomas Gruber stellt für alle Szenen einen einheitlichen Rahmen zur Verfügung: im Hintergrund eine Galerie, von der eine lange Treppe hinunter auf die Bühne führt. Diese wird je nach Szene durch bewegliche Requisiten ergänzt. Trotz dieses eher sparsamen Bühnenbilds nehmen die Umbaupausen ungewohnt viel Zeit in Anspruch. Aufgrund fehlender Zwischenmusik ist das Publikum auf sich selbst zurückgeworfen und beginnt zu reden, was wiederum zu einem deutlichen Spannungsabbau führt. Während diese Pausen im ersten Teil noch nicht so sehr auffallen, häufen sie sich im zweiten Teil und sorgen wegen der Geräusche hinter dem Vorhang noch für zusätzliche, ungewollte Heiterkeit. Aber dies sind kleinere Kritikpunkte, die dem Gesamteindruck kaum schaden und sich vielleicht sogar noch beheben lassen.

Das Premierenpublikum spendete dem gesamten Ensemble einschließlich Regie begeisterten Beifall und geizte auch nicht mit „Bravos“.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

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