Hautnahe Historie – so kann Musical auch sein
Udo Lindenbergs Musical „Hinterm Horizont“ in Berlin ist im Januar wieder aufgenommen worden
Der Rockmusiker Udo Lindenberg ist eine Ikone der deutschen Pop-Musik im 20. Jahrhundert. Dabei spielt weniger die musikalische Qualität als sein Auftreten als „Gesamtkunstwerk“ eine Rolle. Udo Lindenberg hat ab den siebziger Jahren den Stil des rebellischen Musikers geprägt, der sich keiner Schule, keinem Stil anschließt sondern selbst einen schafft. Udo war stets Udo und nie Teil einer Musikgruppe, auch wenn er das „Panik-Orchester“ gegründet und damit auf Tour gegangen ist. Alles war auf ihn als Sänger zugeschnitten. Seine vernuschelte Sprache und seine schnoddrige Ausdrucksweise, die vor keinem Tabu Halt machte, ließen ihn zum Markenzeichen der deutschen Musikszene der achtziger Jahre werden.
Udo Lindenbergs Texte enthielten stets , wie auch die anderer Rock- und Punkmusiker, unverblümte Gesellschaftskritik. Doch im Gegensatz zu anderen Bands beschränkte sich die Kritik nicht auf soziale oder gesellschaftlliche Zustände im Westen, sondern Lindenberg begab sich auch auf das allgemein-politische Feld. In seinem wohl bekanntesten Stück, dem „Sonderzug nach Pankow“, in dem er den US-Klassiker „Chattanooga Choo Choo“ originell eingedeutscht hat, macht er sich auf direkte aber humoristische Weise über die DDR und vor allem den damaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker lustig. Die DDR-Regierung konnte mit dieser Art von Humor überhaupt nicht umgehen, und auch so mancher Linke in der Bundesrepublik betrachtete dieses Lied als nicht „zielführend“ im innerdeutschen Dialog. Dennoch durfte Lindenberg im Ostberliner „Palast der Republik“ auftreten, wenn auch ohne den „Sonderzug“. Doch seine anderen frechen Texte bei diesem vielumjubelten Auftritt hatten zur Folge, dass man die bereits zugesagte DDR-Tournee im folgenden Jahr absagte. Die politisch absolut inkorrekte Begeisterung der DDR-Jugend für diese Musik und diesen Interpreten war den DDR-Oberen nachgerade unheimlich geworden.
Diese Periode seiner Karriere und der deutsch-deutschen Geschichte hat Udo Lindenberg in dem Musical „Hinterm Horizont“ für das Berliner „Theater am Postsdamer Platz“ verarbeitet und bezieht sich damit soweit wie möglich auf dokumentarische Ereignisse. Natürlich wird darum eine Geschichte erzählt, die auch zu Herzen geht, aber stets behalten der treffende Humor und die beißende Kritik an den Zuständen die Oberhand über die Gefühligkeit.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Ostberliner Mädchen Jessica, das brav im FDJ-Chor staatstragende aber langweilige Lieder singt. Ihr heimlicher Schwarm ist Udo Lindenberg, und durch einen gemeinsamen Auftritt bei Udos Gastspiel lernt sie ihn kennen und lieben. Jessicas Bruder Elmar ist ebenfalls Rock- und Udo-Fan und rebelliert gegen den Mief der DDR, ihrer beider Vater ist linientreuer Sporttrainer und betreut den etwas einfältigen Markus auf seinem Weg zur Goldmedaille der Hammerwerfer. Versteht sich, dass der Haussegen in der kleinen, miefigen Wohnung des Öfteren schief hängt und die Mutter alle Hände voll zu tun hat, den Familienfrieden einigermaßen zuz wahren.
Die Stasi hat das kurze Techtelmechtel zwischen Udo und Jessi argwöhnisch beobachtet und beendet. Als Elmar vesucht, einen Brief Jessicas an Udo über Westbesucher in den Westen zu schleusen, fliegt er auf und wird eingesperrt. Jessica kann ihn nur befreien, indem sie eine Erklärung als IM unterschreibt, was sie unter dem gemeinsamen Druck von Stasi und Familie tut. Elmar haut per Ballon ab in den Westen und übermittelt Jessica von dort eine codierte Botschaft von Udo über einen bevorstehenden Auftritt in Moskau. Dort treffen sich die beiden, und prompt wird Jessica schwanger. Zu Hause verweigert sie die von ihrem Vater vorgeschlagene Abtreibung und heiratet schließlich Markus, um mit dem Kind nicht alleine zu sein, dessen Vater niemand außer ihr kennt.
Mit dem 9. November 1989 ändert sich alles, und Jessica versucht Udo wiederzusehen. Doch Udo erfährt von dem IM-Vertrag und geht auf Distanz, so dass Jessica wieder alleine mit Sohn und ungeliebtem Mann in der Ostberliner Wohnung sitzt.
Die ganze Geschichte ist in eine Rahmenhandlung verpackt. Irgendwann Anfang des Jahrtausends, Jessicas Sohn ist bereits erwachsen, kommt eine Journalistin zu Jessica und befragt sie über den Besuch von Udo Lindenberg in den frühen Achtzigern. Jessica will erst nicht darüber reden, dann jedoch überwältigen sie die Erinnerungen, und die ganze Geschichte nimmt auf der Bühne ihren Lauf. Gegen Ende, nach der großen Enttäuschung, setzt diese Rahmenhandlung wieder ein. Jessica erzählt Mann und Sohn die Wahrheit und die Journalistin entführt alle nach Hamburg ins Hotekl „Atlantic“, wo Udo Lindenberg gerade ein großes „Doppelgänger-Casting“ veranstaltet. Nach einigem Hin und Her und dem Austausch von verschiedenen Empfindlichkeiten fallen sich Vater und Sohn in die Arme, und auch Jessica ist wieder versöhnt.
Udo Lindenberg hat diese Geschichte als temporeiches, witziges, aber auch an manchen Stellen ernstes Musical inszeniert. Dabei gelingt es ihm auf unnachahmliche Weise, sowohl den musikalischen Aspekt als auch die historisch-politische Seite glaubwürdig, kritisch und ohne falsches Pathos abzuhandeln. Selten – oder eigentlich nie – hat man ein Musical gesehen, das in solcher Offenheit und Direktheit auf die politische und gesellschaftliche jüngere Geschichte Bezug nimmt. Dabei gelingt ihm das Kunststück, die DDR und ihre Organe der Lächerlichkeit preiszugeben, ohne sie marginalisieren oder gar zu verharmlosen. Wenn die Riege beflissener Stasi-Offizieren dem schon ein wenig senilen Minister (Erich Mielke) nach dem Munde redet, wird das bei Lindenberg zu einer Tanztheater-Show am Konferenztisch mit Gesangseinlagen im Stil Bertold Brechts. Und die beiden Stasi-Leute, die in Hut und hellem Trenchcoat alle Aktionen mit Notizblock und Kamera beobachten, strahlen eher eine Art höherer Lächerlichkeit aus, die gleichzeitig ein hohes Gefahrenpotential enthält. Das Lachen bleibt dem Zuschauer bei diesen beiden Figuren stets im Halse stecken, sollte es überhaupt einmal aufkommen.
Politische Demonstrationen und Auseinandersetzungen werden meist tänzerisch dargestellt, mit entsprechender musikalischer Begleitung. Da treten Volkspolizisten mit Schild und Gummiknüppeln in einer dramatischen Choreografie gegen jugendliche Rockfreunde an; später werden daraus Demonstranten des Herbstes 1989. Immer wieder zeigt Lindenberg im Dialog oder durch tänzerischen Ausdruck die Unterdrückung durch die Organe der DDR. Als Gegenstück zu dieser öffentlichen Auseinandersetzung rückt er periodisch die kleinbürgerliche Wohnung von Jessicas Eltern auf die Bühne, wobei dieses Ensemble in dem weiten, leeren Bühnenraum einen bewusst angestrebten verlorenen EIndruck macht. Die Enklave der Privatwohnung gibt es zwar, sie ist aber sehr klein und eng.
Die Lieder der Protagonisten leben durchweg vom „Lindenberg-Stil“. Allerdings bewahren sie sich ein großes Stück Realitätsbewusstsein und ziehen sich nicht völlig auf einen Protest um seiner selbst willen zurück. Die handelnden Personen, und hier ist vor allem die Person der jungen Jessica zu nennen, verfolgen durchweg konkrete Ziele: Elmar will mehr persönliche Freiheit und findet sie schließlich – mit Abstrichen – im Westen; Jessica will Udo und bekommt dafür seinen Sohn. Ihr Traum gilt aber bis zuletzt dem Rockmusiker Udo – eine kleine Koketterie des Produzenten. Sogar Jessicas Eltern verfolgen eigene Ziele: er will sportlichen Erfolg für die DDR, sie will die Familie zusammenhalten.
Choreografie „Gitarren statt Knarren“
Udo Lindenberg ist mit diesem Musical nicht nur ein temporeiches, musikalisch anspruchsvollen Musical gelungen, er bringt auch die jüngere deutsche Geschichte auf den Punkt und markiert die wichtigsten Punkte, ohne einerseits in ideologische Fallen zu laufen oder andererseits zu sehr auf die Tränendrüse zu drücken. Ein Höhepunkt der Inszenierung ist sicher die Maueröffnung im November 1989, die er nicht nur mit reichlich Tanz und Musik sondern auch mit dokumentarischen Videosequenzen auf dem Hintergrund eines Mauerduplikats illustriert. Nach dieser Szene gab es kräftigen Szenenbeifall, und so mancher Besucher dachte wohl, hier sei schon Schluss. Stattdessen ging es jedoch weiter bis zur abschließenden Casting-Show mit einem gefühlten Dutzend von Lindenberg-Doubles, was wiederum gute Gelegenheit zu dem typischen „Udo-Slapstick“ – verbal und körperlich – bot.
Das Musical ist auch ein Jahr nach seiner Erstaufführung immer noch sehr gut besucht, sogar bei den Nachmittagsvorstellungen, und es ist nicht einfach, Karten für die Abendaufführungen zu erhalten.
Frank Raudszus
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