Blick zurück ohne Zorn

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Michael von Burg (Christian) und Lissa Schwarm (Ina)

Das Staatstheater Wiesbaden bringt Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ auf die Bühne.

In den letzten Jahren ist die Zahl der Theaterversionen berühmter Romane deutlich gewachsen. Nun unterscheiden sich Romane und Theaterstücke bekanntlich grundlegend in wesentlichen Aspekten, so dass sich die Frage nach dem Grund solcher Transponierungen stets von neuem stellt. Die aristotelischen Forderungen an ein Theaterstück – Einheit von Ort, Zeit und Handlung – werden heute zwar auch von „reinen“ Theaterstücken nicht immer eingehalten, doch der Roman verzichtet aus guten Gründen in einem solchen Ausmaß auf diese Forderungen, dass sich zwangsläufig Darstellungs- und Rezeptionsprobleme ergeben. Der Roman zeigt die Entwicklung einer Person oder einer psychologischen, politischen oder sozialen Situation über einen längeren Zeitraum und ermöglicht es dem Leser, sich in leserischer Muße in die fiktive Welt des Romans einzuleben. Das Theater jedoch ist an die Grenzen von wenigen Stunden und einer kleinen weil „realen“ Bühne gebunden, in denen es eine Aussage konsistent und überzeugend erarbeiten und darstellen muss.

Lars Wellings, Sybille Weiser, Michael von BurgEine wenig überzeugende Antwort auf die Frage nach dem „warum“ lautet, es seien nicht genügend originäre Theaterstücke verfügbar, so dass man auf Romane ausweichen müsse, der wahrscheinlichere Grund liegt jedoch eher an der Zugkraft bestimmter Romane, die man gerne – und durchaus legitim – für das Theater nutzen möchte. In die „Buddenbrooks“, die übrigens in Darmstadt durchaus erfolgreich „theatralisiert“ wurden, lassen sich wesentlich mehr Zuschauer locken als in ein zeitgenössisches Theaterstück eines (noch) unbekannten Autors. Doch ein Argument, das übrigens mit dem behaupteten Mangel an guten Stücken übereinstimmt, spricht für die Adaption eines Romans: wenn es zu einem wichtigen oder gar brennenden Thema kein entsprechendes Theaterstück gibt. Das ist im Fall der untergegangenen DDR gegeben. Zwar haben im letzten Jahrzehnt eine Anzahl von Autoren in ihren Stücken DDR-Themen behandelt, doch dabei ging es oft um die Aufarbeitung des Transformationsprozesses nach der Wiedervereinigung. Im Gegensatz zum Fernsehfilm hat sich das Theater nur recht zögerlich und partiell an die Aufarbeitung des ehemaligen zweiten deutschen Staates gemacht. Ob das darin liegt, dass manche Autoren als überzeugte Linke dem ersten sozialistischen Versuch auf deutschem Boden nachtrauern und ihm kein schlechtes Zeugnis ausstellen wollen oder dass dies Thema zu viele ideologische und gesellschaftliche Fallgruben enthält, sei dahingestellt. Auf jeden Fall fehlt die weit gespannte  Aufarbeitung der DDR-Epoche auf der Bühne.

Uwe Tellkamp hat mit dem Roman „Der Turm“ genau dies getan und damit großen Erfolg geerntet. Aus der subjektiven Sicht eines jungen Mannes schildert er die Zeit zwischen 1982 und 1989 in Dresden, das zu DDR-Zeiten wegen fehlenden Zugangs zum Westfernsehen den Spitznamen „Tal der Ahnungslosen“ trug. Hier wächst der junge Christian als Sohn eines Chirurgen in einer großbürgerlichen Enklave auf, in der sich die Vertreter bestimmter gehobener Berufe – Ärzte, Wissenschaftler – zurückziehen können und es auch tun. Mehr oder weniger offen verachten die vom Sozialismus dringend benötigten und daher begrenzt hofierten „Facheliten“ den Staat und seinen Unterdrückungsapparat. Für sich haben sie nicht nur das alte Villenviertel der Vorkriegsbourgeoisie okkupiert, sondern pflegen dort auch großbürgerliche Liebhabereien wie klassische Musik und Kunst. Christian selbst spielt begeistert Cello, will Medizin studieren und träumt von einer großen Karriere bis hin zum Nobelpreis, muss jedoch als Vorbedingung für einen Studienplatz drei Jahre bei der NVA dienen. Während dieses Dienstes kommt wegen unsinniger Befehle und Schikanen höherer Stellen ein Kamerad zu Tode, und Christian greift in seiner berechtigten Wut den Vorgesetzten tätlich an, was ihm eine Gefängnisstrafe sowie eine Dienstverlängerung einbringt. Im Herbst 1989 schließlich steht er mit seinen Kameraden dem rebellierenden Volk gegenüber und wird mit der Möglichkeit konfrontiert, auf seine eigene Mutter schießen zu müssen. Diese hatte sich nach den permanenten – ebenfalls großbürgerlichen – außerehelichen Eskapaden ihres Mannes von diesem abgewandt und sich der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen. Jetzt protestiert sie zusammen mit Gleichgesinnten gegen die Diktatur der SED und sieht sich ihrem eigenen Sohn in Uniform gegenüber.

Wolfgang Böhm, Michael Birnbaum, Michael von Burg, Michael von BenningsenUwe Tellkamp belebt dieses weitgespannte Tableau auf nahezu tausend Seiten mit ausgefeilten Charakteren und detaillierten Hintergrundbeschreibungen. Da sind die ewig unschlüssigen Privilegierten des „Turms“ –  so nennt der Volksmund deren Wohnviertel -, die nicht wissen, ob es besser sei, die Pfeile des sozialistischen Elends zu ertragen oder das Leiden mit der Flucht zu enden, und sich in die Privatheit von Kunst und Kultur zurückzuziehen – und sich nebenbei wie „kapitalistische“ Groß- und Kleinbürger benehmen. Da ist Christians Onkel Meno, einstmals überzeugter Sozialist und Lektor bei einem Verlag, der sich jedoch längst an die Vorteile seiner herausgehobenen Situation als „werktätige Intelligenz“ gewöhnt hat und die junge, rebellische Schriftstellerin Schevola nur halblau unterstützt, um sich nicht zu kompromittieren. Und da sind die katastrophalen, menschenunwürdigen Zustände in der NVA und den Gefängnissen der DDR, in denen das nackte Gesetz des Stärkeren – Dienstgrad oder Körperkraft – herrscht und wo die Schikane Triumphe feiert. Da ist die Schule, in der einige Lehrer versuchen, auf dem schmalen Grat zwischen sozialistischer Linientreue und  Solidarität mit aufmüpfigen jungen Menschen zu wandeln, und da ist schließlich die Stasi, die routiniert mit Erpressungen, Drohungen und Lockungen arbeitet.

Die meisten dieser psychologischen, sozialen und politischen Bilder bieten sich mangels konkreter Handlungselemente nicht spontan für das Theater an. Denn, realistisch wie diese Situation sind, äußern sie sich nicht in der Zuspitzung von Konflikten mit anschließender kathartischer Katastrophe, sondern in Andeutungen, inneren Zweifeln, Ängsten und Kompromissen, kleinen Intrigen und versteckten Strategien der Konfliktvermeidung oder -minimierung.

John von Düffel hat sich in seiner Theaterfassung denn auch an die weiter oben beschriebenen Handlungselemente gehalten, will sagen, er hat das Handlungsgerüst des Romans inszeniert. Um jedoch der Falle eines zu kurz greifenden „Polit-Thrillers“ zu entgehen, setzt er über lange Strecken Originaltexte aus Tellkamps Roman ein, um damit nicht nur die Atmosphäre des Romans sondern auch dessen Reflexionsebene zu erhalten. Das funktioniert natürlich nur auf Kosten der Bühnendynamik, denn das Theater schreit nach Handlung, nicht nach Texten. Regisseur Tilman Gersch nimmt von Düffels Absicht auf und lässt mehr als einmal Tellkamps epischen Textstrom wirken. Gleich zu Beginn tragen nacheinander verschiedene Darsteller längere Texte aus der Perspektive des Erzählers vor, allen voran Michael von Burg selbst, der die Rolle des jungen Christian übernommen hat. Nach seinem längeren Monolog, den er ins Publikum spricht, steigt Jörg Zirnstein als Onkel und Mentor Meno aus einer Erdfalte wie aus einer Unterwelt, und das Dialogspiel beginnt in eher epischer Rede. Diese geradlinig in die Tiefe der Bühne verlaufende Spalte weckt nicht nur durch ihre Form eindeutige Assoziationen, sie lässt auch immer wieder Figuren aus dem Boden steigen und zu Christian sprechen. Für den jungen Mann kommen alle diese Figuren aus einer ihm unbekannten Welt, zu der er keine Beziehung aufbauen kann, weil sie ihm von Anbeginn fremd bleibt. Will sagen, der Protagonist fühlt sich in dieser Gesellschaft von vornherein als ein Fremder, wenn nicht Ausgestoßener, der die Ereignisse nur als externes Unglück wahrnimmt. Eine Gestaltung nach eigenen Vorstellungen bleibt ihm versagt. Sowohl den Militärdienst als auch die Zeit im Gefängnis verbringt er wie in Trance und versucht, seine Individualität dadurch zu bewahren, dass er sich abkapselt und liest, im Gefängnis gar den gesamten Proust. Aber auch er wird zwei Mal aus seiner inneren Emigration gerissen und mit der brutalen Realität konfrontiert.

Während der erste Teil noch stark von textlastigen Szenen geprägt ist und sich daher nur zäh entwickelt, nimmt die Inszenierung nach der Pause deutlich Fahrt auf. Nun bringen die extremen Szenen aus dem Militär und dem Gefängnis Tempo und Schärfe ins Spiel, und die zaghaften Annäherungen zu den jungen Mädchen bilden dazu ein fast lyrisches Gegengewicht, obwohl Regisseur Gersch in ihnen eher die Frustrationen und verständlichen Aggressionen der jungen Menschen in den Vordergrund stellt und die Werbung um emotionale Nähe nur andeutet.
Das Bühnenbild von Ariane Salzmann bringt den Titel im wahrsten Sinne des Wortes auf die Bühne. Wie antike Säulen stehen schmale, unterschiedlich hohe Säulen auf der Bühne und symbolisieren nicht nur die Abgeschlossenheit der privilegierten Gesellschaft – „Elfenbeinturm“! – sondern auch die Isolation des Einzelnen in der DDR, der nie wusste, ob sein jeweiliger Gesprächspartner nicht ein Spitzel war. Die Assoziation an antike Säulen spielt auf das (groß-)bürgerliche Kulturverständnis dieser „Sub-Gesellschaft“ an und der Ruinencharakter des Säulenensembles auf den Zustand der späten DDR. In der zweiten Hälfte hebt und senkt sich – je nach Szene – ein Mauerelement aus dem Bühnenboden, das konkret für militärische Übungswände oder Gefängniswände und symbolisch für „die Mauer“ steht.

Die Darsteller machen aus der eher episch-seriellen denn dramatischen Handlung das Beste. Michael von Burg spielt den Christian als unfertigen, in Tagträumen schwelgenden jungen Mann, der den üblichen Jugendcliquen – politisch angepasst oder rebellisch – nichts abgewinnen kann und meist abseits steht, jedoch vor allem unter der mangelnden Akzeptanz der jungen Mädchen leidet. Diese Unsicherheit bei gleichzeitiger maßloser Selbstüberschätzung bringt von Burg überzeugend zum Ausdruck. Lars Welling gibt Christians Vater Richard als zerrissenen Charakter, der zwischen Ehefrau und Geliebter, Dableiben und „Abhauen“, Solidarität zu seinen Patienten und Verwirklichung seiner eigenen Wünsche schwankt und sich die Entscheidungen meist von der Umwelt aus der Hand nehmen lässt. Am Ende ist Richard tatsächlich am Ende, und nur die politische Wende kann ihn noch retten, wenn überhaupt. Lars Wellings verleiht dieser ambivalenten Figur ein glaubwürdiges Profil. Doreen Nixdorf hat dagegen mit der eher gradlinigen Anne, Richards Ehefrau, eine eher einfache Rolle zu bewältigen und tut dies routiniert und glaubwürdig. Jörg Zirnmstein hätte aus der schillernden Figur des Lektors Meno vielleicht etwas mehr herausholen können. So weiß man nicht, ob er nun ein überzeugter Sozialist, ein eiskalter Opportunist oder ein feiger Mitläufer ist. Aber vielleicht macht diese Unentschiedenheit gerade die Ambivalenz der Figur aus. Hervorzuheben ist noch Sybille Weiser, die gleich in mehreren Rollen als scheiternde und verzweifelt-zynische Schriftstellerin Schevola, als Richards drängende Geliebte Josta und als überzeugte Jungsozialistin Swetlana auftritt und in allen Ropllen überzeugt.

Das Premierenpublikum wusste die Leistung des Ensembles zu schätzen und spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus

Weiter Aufführungen:  18. und 27.1. sowie 5.,9.,17. und 27. 2.2012

Alle Fotos © Lena Obst

 

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