Die Frankfurter Kunsthalle Schirn zeigt die Ausstellung „Edvard Munch – Der moderne Blick“

Print Friendly, PDF & Email

Mehr als nur ein Schrei

Die Frankfurter Kunsthalle Schirn zeigt die Ausstellung „Edvard Munch – Der moderne Blick“


Wie manch anderer großer Künstler leidet Edvard Munch posthum darunter, von einer breiten Öffentlichkeit auf ein einziges Werk reduziert zu werden. So konnte es auch nicht verwundern, dass sowohl in Paris als auch in Deutschland im Vorfeld der Ausstellung Pressevertreter als erstes fragten, ob denn auch „Der Schrei“ in der Ausstellung zu sehen sei. Als stehe und falle damit der Wert der gesamten Ausstellung. Nun, diese Frage lässt sich – leider(?) – nur abschlägig beantworten. Dieses berühmte Bild ist mittlerweile – wohl auch wegen früherer Reisen zu verschiedenen Ausstellungen – in einem solch kritischen Zustand, dass es nicht mehr ausgeliehen wird. Wer also Munchs „Der Schrei“ sehen will, muss schon nach Norwegen reisen.

Doch Edvard Munch hat noch viele andere Kunstwerke geschaffen: Gemälde, Zeichnungen und – ja auch – Fotografien und Filme. Und wenn auch die anderen Gemälde nicht dieselbe Ausdruckskraft besitzen wie „Der Schrei“, ist ihre künstlerische Qualität deswegen doch nicht geringer. Über 130 Werke verschiedener Gattungen umfasst diese Ausstellung, die direkt von Paris nach Frankfurt gekommen ist. In Paris hatte das „Centre Pompidou“ diese Ausstellung im letzten Quartal 2011 gezeigt und damit einen neuen Besucherrekkord aufgestellt. Wir haben darüber bereits in einem anderen Beitrag berichtet. Die Frankfurter Schirn hatte den Pariser Erfolg bereits früh erahnt und sich die „Erstlingsrechte“ gesichert, noch vor der Londoner Tate-Galerie.
Edvard Munch (1863-1944) ist achtzig Jahre alt geworden und hat bis zum letzten Tag künstlerisch gearbeitet. Seine Werke zeichnen nicht nur seine Epoche nach sondern auch sein eigenes Leben. In vielen Bildern zeigt er das harte Leben der Landbevölkerung und der Industriearbeiter. Die Bilder geben die Realität mit ungeschminkter Direktheit wieder, ohne Mitleid heischendes Pathos oder weit ausladender Anklagegeste. Als nüchterner Skandinavier spürte Munch intuitiv, dass die Darstellung der nackten Realität mehr Aussagekraft und moralische Wucht enthält als jede aufgesetzte Kommentierung des Künstlers. Dabei verzichtet Munch auch bewusst auf einen detaillierten Realismus. Noch vor der Verbreitung der Fotografie war ihm klar, dass die Aussage eines Bildes nicht darin besteht, die Natur bis ins letzte Detail nachzubilden. Was den Malern von der Renaissance bis zum Rokokko am Herzen lag – die ganze Pracht von Gebäuden, Kleidung und Menschen zu zeigen -, wird in der Folge der Romantik unwichtig. Diese hatte Natur und Mensch idealisiert, der Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts kam auf den Boden der konkreten Realität zurück, und Munch schließlich war einer der ersten, der diese Realität auf die wesentlichen Elemente abstrahierte. Für ihn bedeutet die Situation alles, das Detail wenig. Insofern war er ein Vorreiter des Expressionismus.

Selbstporträt So hat er tagein, tagaus den Alltag um sich herum beobachtet und in seinen Bildern festgehalten. Der Gesichtsausdruck seiner Modelle, deren Körperhaltung und die Stimmung der Komposition standen für ihn im Mittelpunkt. Besonders haben ihn Gewalt und Not fasziniert. So findet man viele Bilder, die Krankheit, Verfall oder Tod zeigen. Ein besonders anrührendes Bild ist „Das kranke Kind“, auf dem ein blasses Mädchen mit durchscheinender Haut und vergeistigtem Blick aus dem Bett die um Heilung flehende Mutter anschaut. Ein anderes Bild zeigt eine ganze Familie, die in einem halbdunklen Schlafraum das Sterben eines Familienmitglieds begleitet. Andere Gemälde zeigen Mord und Totschlag oder Schlägereien. Eines der letzteren zeigt eine tätliche Auseinandersetzung, die Munch selbst in jüngeren Jahren mit einem Bekannten angezettelt hatte.
Andere Themen setzte Munch in verschiedenen Varianten um. So das Thema „Weinende Frau“, das in Frankfurt einen eigenen Raum einnimmt. Munch hat dazu eine ganze Serie von Gemälden und Zeichnungen dieses Sujets mit nur kleinen farblichen oder kompositorischen Abwandlungen geschaffen. Daran kann man ablesen, wie ihm diese Szene zu Herzen ging, ohne im Detail zu wissen, welche Frau hier warum weint. Auch die arbeitende Bevölkerung und ihre beschwerlichen Tätigkeiten hält Munch im Bild fest: mal sind es arbeitende, mal streikende Arbeiter, dann wieder Seeleute. Alle tragen sie dunkle Kleidung und schauen mit verschlossenen, harten Gesichtern aus den Bildern heraus.
Der „moderne Blick“ Munchs, den die Ausstellung als Titel trägt, verweist nicht auf die Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auf die Tatsache, dass sich Munch schon früh mit moderner Medientechnik beschäftigt hat. Bereitt Anfang des 20. Jahrhunderts kaufte er sich eine der ersten Fotoapparate und experimentierte damit intensiv. Neben Abbildungen der Realität um sich herum fertigte er damit auch Selbstportraits an, indem er die Kamera am ausgestreckten Arm um sich herum führte. Ein ahnungsvoller Vorgriff auf die heutige Handy-Fotografie! Neben der Fotografie faszinierte ihn vor allem der aufkommende Film. Bereits frühzeitig nahm er bewegte Bilder auf, angefangen von Straßenszenen mit Autos und Passanten bis hin zu typischen Stummfilm-Szenen mit prügelnden Männern und Slapstick-Komik à la Buster Keaton oder Laurel/Hardy.

Durchgängig bei dieser Munch-Ausstellung ist der pessimistische, fast depressive Blick des Künstlers auf die Welt. In dieser Hinsicht bestätigt er das Klischée des suizidgefährdeten Skandinaviers, das sich mit Ibsen und Strindberg auch in der Literatur festgesetzt hat. Selbst Bilder mit scheinbar neutralen Themen verströmen unterschwellig eine schwermütige Stimmung, und es gibt nur wenige Bilder, die wie „Mädchen auf der Brücke“ einen heiteren Aspekt aufweisen; und selbst diese zeigen neben der heiteren Seite noch eine düstere auf.
Diese Munch-Ausstellung hat nicht nur in Paris einen Zuschauerrekord erzielt, das Interesse bei der Pressekonferenz der Schirn lässt darauf schließen lag, dass sich der Besucheransturm fortsetzen wird. Wer die Ausstellung noch mit etwas Muße und guten Sichtachsen genießen will, sollte schnell in die Kunsthalle Schirn eilen, bevor sich diese Ausstellung herumgesprochen hat.
Die Ausstellung ist vom 9. Februar bis zum 13. Mai 2012 dienstags sowie freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags von 10 bi 22 Uhr geöffnet.

Frank Raudszus

 

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar