Das 7. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt legt den Schwerpunkt auf Franzosen des frühen 20. Jahrhunderts

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Dirigentin Julia Jones

Die feinen Facetten des „Fin de Siècle“  

Das 7. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt legt den Schwerpunkt auf Franzosen des frühen 20. Jahrhunderts
Das 7. Sinfoniekonzert präsentierte ein wahrhaft kosmopolitisches Programm: eine britische Dirigentin interpretierte mit einem deutschen Orchester französische Musik. Wenn das nicht eine künstlerische Antwort auf die anhaltende Euro(pa)-Debatte war!

Die Engländerin Julia Jones ist auf vielen europäischen Opernbühnen präsent und hat bereits mit den verschiedensten Orchestern konzertiert. In Darmstadt kennt sie sich aus, und ältere Konzertbesucher werden sich noch an sie erinnern. Mitte der neunziger Jahre war sie zwei Jahre lang Erste Kapellmeisterin am Staatstheater. Das Gastdirigat an diesem Wochenende war also ein Wiedersehen mit einer hoffentlich in guter Erinnerung gebliebenen Wirkungsstätte.

Das Programm passte in gewisser Weise zur soziokulturellen Situation. Vor rund einhundert Jahren befand sich Europa in einer selbstverschuldeten Krisensituation, die wegen der Engstirnigkeit der nationalen Regierungen in den Ersten Weltkrieg mündete; heute befinden wir uns wiederum in einer europäischen Krise, die jedoch im schlimmsten Fall zum Verlust der gemeinsamen Währung führen kann. Auf subtile Weise rief das Programm die damalige Situation in Erinnerung und diente damit als Warnung. Doch daran dachte das Publikum im nahezu ausverkauften Großen Haus sicher nicht, sondern folgte aufmerksam den differenzierten Klangformen, die vor allem die französische Musik des „fin de siècle“ geprägt haben.

Die Franzosen prägten zwar den Verlauf dieses Abends mit Werken von Francis Poulenc, Maurice Ravel und Claude Debussy, doch am Anfang stand mit Nikolai Rimskij-Korsakov ein Russe. Die Ouvertüre zu seiner Oper „Mainacht“ entstand bereits 1879/80 und zeichnet sich durch ihre schlichte Melodik aus, durch die immer wieder russische Volksweisen schimmern. Auch die Orchestrierung verzichtet auf jegliche übertriebenen Effekte und beschränkt sich bewusst auf eine unmittelbare, unverfälschte Wirkung. Im Gegensatz zur westeuropäischen Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts betont die Musik der „Neu-Russen“ nicht die auseinanderstrebenden Kräfte der Gesellschaft sondern beschwört die Einheit und die Harmonie. Aus heutiger Sicht wirkt diese Musik im Vergleich zur der damals vorherrschenden Musik vielleicht etwas naiv, aber sie zeigt auch den Willen der Künstler, zu den Wurzeln des Volkes und seiner Musik zurückzukehren. Julia Jones versuchte erst gar nicht, in diese Musik mehr hineinzuinterpretieren, sondern präsentierte sie mit eben der Konzentration auf das Einfache und Volksnahe. Damit bildete dieses Stück einerseits einen einfachen Einstieg in das darauf folgende Programm und andererseits einen gewissen Kontrast dazu.

Andreas Grau und Götz SchumacherDa gehörte das Solokonzert dieses Abends, Francis Poulencs Konzert für zwei Klavier in d-Moll, zu einer ganz anderen Kategorie. Das im Jahr 1932 entstandene Werk zeigt nicht nur deutlich die musikalischen Charakteristiken des 20. Jahrhunderts – Harmonien bis an die Grenzen der Tonalität sowie schroffe Klänge und Metrik – sondern birgt auch in sich selbst erstaunliche Kontraste. Schon der Beginn – ein schroffer Schlag – wirkt wie ein Affront, darauf folgt eine Passage in einem scharfen Stakkato. Generalpausen sowie Tempo- und Intensitätswechsel prägen den ersten Satz, bei dem die zwei Klavier so eng ineinandergreifen, dass sie sich zeitweise wie ein einziges, besonders voluminöses anhören. Das „Allegro ma non troppo“ liest sich leicht und luftig, der Satz bietet jedoch scharfe Gegensätze und teilweise kompromisslose Klänge und Rhythmen. Der zweite Satz beginnt mit einer Überraschung: auf dem einen Flügel erblüht förmlich eine Thema, das von Mozart sein könnte. Ja, wer die Klavierwerke von Mozart nicht im Kopf hat, denkt im ersten Moment an ein bewusstes Plagiat. Das ist es natürlich nicht, da Mozart dieses spezielle Thema nirgends verarbeitet hat. Doch wenn das Orchester einsetzt, ist es vorbei mit der Mozart-Seligkeit; nun kämpft das einsame Thema gegen ein schroffes Orchester, das zusammen mit dem zweiten Flügel das Kommando übernimmt und das Mozart-Motiv schnell verdrängt. Zwar variiert auch das Orchester dieses Motiv, nun aber im Stil des 20. Jahrhunderts. Das Finale beginnt geradezu burlesk, mit scharfen Klängen und markanter Metrik, aber auch hier wartet der Komponist mit Überraschungen auf. Mitten in diesem ganz den Klangvorstellungen des 20. Jahrhunderts folgenden Satz blitzen plötzlich langgezogene romantische Motive auf, halten sich einige Takte und verschwinden dann wieder. Mit diesen Zitaten früherer Musikepochen erweist Poulenc seinen vorangegangenen Kollegen nicht nur Reverenz, er lässt darüber hinaus auch so etwas wie eine musikhistorische Melancholie anklingen, als wolle er damit ausdrücken, wie schade es sei, dass man nicht mehr so komponieren könne.

Der doppelte Klavierpart ist geradezu furios. Schnelle Akkordketten wechseln sich mit rasanten Läufen ab, das Ganze in einem komplexen Zusammenspiel der beiden Pianisten, die im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun hatten. Mit kurzen Blicken synchronisierten sie die gegenseitigen Einsätze und jagten dann gemeinsam durch die Partitur. Lyrische Elemente stehen in diesem Stück nicht im Vordergrund – von den erwähnten Ausnahmen abgesehen. Harmonische und metrische Grenzgänge prägen stattdessen dieses Werk Die beiden Pianisten nutzten die Gelegenheit, ihr brillantes technisches Können zu zeigen, ohne deswegen in bloßes Virtuosentum zu verfallen. Sie schafften es stattdessen, ihrer Interpretation ein Stück der emotionalen Zerrissenheit zu verleihen, die die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geprägt hat. 

Das Publikum zeigte sich von dieser pianistischen Leistung derart beeindruckt, dass die beiden Solisten noch zwei Zugaben präsentierten: die virtuosen Paganini-Variationen des polnischen Komponisten Witold Lutoslawski, die wie Poulencs Stück die Grenzen der Tonalität streifen, sowie ein anderes modernes Stück.

Der zweite Teil war der instrumentalen Orchestermusik des frühen 20. Jahrhunderts gewidmet. Maurice Ravels „Pavane pour une infante défunte“ ist als würdevoller Tanz auf den Tod einer jungen Infantin gedacht, lässt sich aber auch als Abgesang auf die herkömmliche Musik interpretieren, da Ravel mit Kritikern und einem großen Teil des Publikums auf Kriegsfuß stand. Seine neuartige Harmonik und Metrik, die feste Gewohnheiten und Frage stellte und „Grenzen verwischte“, verunsicherte die musikalische Öffentlichkeit und weckte entsprechende Kritik. Die raffinierten Klangfarben und langgezogenen Motivbögen wecken Assoziationen von Melancholie, Resignation und Weltferne. Julia Jones lotete die Klangvariationen mit dem Orchester bis in die Details aus und ließ immer wieder neue Klangbilder erblühen.

Den Schluss des Programms bildete Claude Debussys bekanntes sinfonisches Werk „La Mer“, in dem er das Wesen der See beschreibt. Doch im Gegensatz zu einem Smetana, der in der „Moldau“ den gurgelnden und dahinströmenden Fluß lautmalerisch darstellt, geht es in Debussys Stück nicht um die unmittelbare Wiedergabe des Gegenstands „Meer“ sondern um die Assoziationen, die es beim Menschen weckt. Dazu gehört die langsam aufkommende Morgendämmerung, die über einem noch stillen, grauen Horizont aufsteigt, genauso wie die strahlende Sonne, die sich später über dem Meer erhebt und schließlich eine im wörtlichen Sinne „brüllende“ Mittagshitze ausstrahlt. Entsprechend endet der mit „De l´aube à midi sur mer“ übertitelte Kopfsatz mit einem expressiven Ausbruch des gesamten Orchesters. Der zweite Satz – „Spiel der Wellen“ – beschreibt musikalisch die unaufhörlich hin- ud herwogenden Wellen auf dem Meer. Die Streicher liefern dabei den wogenden Grundton der Dünung, während die hellen Bläser darüber die kleinen, kreuz ud quer laufenden Wellen markieren. Wenn überhaupt, ist in diesem Teil etwas von programmatischer Musik zu spüren. Der Finalsatz steigert dieses Spiel zu einem veritablen Sturm, bei dem es musikalisch recht heftig zugeht. Immer neue Klangbilder sorgen für eine bedrohliche bis erregte Stimmung.

Julia Jones entlockte dem Orchester gerade bei diesem letzten Werk Höchstleistungen in der Intonation und Klangbildung. In den Köpfen der Zuhörer erzeugte sie mit suggestiver kraft die Vorstellung eines anfangs ruhigen Meeres, das der Wind später in heftige Bewegungen versetzt. Und das gelang, wie bereits erwähnt, nicht durch vordergründige Nachbildung von Naturvorgängen sondern durch die Neuerschaffung eben dieser Assoziationen mit Mitteln des Klanges.

Das Publikum war begeistert und zeigte dies durch lang anhaltenden Beifall.

Frank Raudszus

 

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