Im Berliner Techno-Club „Berghain“ gastiert das Berliner Staatsballett mit dem Programm „Masse“

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Bühnenimpression

Masse = Klasse?  

Im Berliner Techno-Club „Berghain“ gastiert das Berliner Staatsballett mit dem Programm „Masse“
In Berlin benutzt man für gewöhnlich öffentliche Verkehrsmittel, wenn man die Bühnen der Hauptstadt besuchen möchte. Der Mangel an Parkplätzen lässt die Entscheidung für gewöhnlich leicht fallen. Je feiner die Adresse, sprechen wir beispielsweise von der Deutschen Oper oder eben einem Besuch des Staatsballets, desto meher greift man sicher auf das Taxi zurück. Aber auch dies ist ja durchaus öffentlich. Also ist der Berliner sich üblicherweise nicht zu fein für die BVG.

Nun tritt das „Berghain“ als völlig neuer Kulturstandort in Berlin auf, und die erste Frage, die dem Glücksgefühl über die mit Stolz in der Hand gehaltene Eintrittskarte folgt, lautet: Wo ist das Berghain eigentlich? Die Antwort lautet: in Friedrichshain. Im tiefsten Ostberlin, irgendwo im Niemandsland zwischen East Side Gallery, O2 Arena und dem Ostbahnhof. Gibt es da überhaupt einen direkten U-Bahn-Anschluss? Möchte ich den dort im Dunkeln suchen? Nun, das Taxi wird schon hinkommen. Und wenn man doch das eigene Auto nimmt, um die Gegend etwas zu erkunden? Der erste Mai ist ja ruhig verlaufen – Fahrzeuge werden diese Nacht wohl auch nicht in Flammen aufgehen.

Es ist Christi Himmelfahrt, ein Donnerstag. Das Navigationsgerät findet den Wriezener Bahnhof in eben erwähnter Brachlandschaft zwischen Großhändlern und Im- und Export-Lagerhallen. Vor der Windschutzscheibe baut sich ein kolossales Gebäude als optischer Zwitter zwischen Bunker und Fabrikgebäude auf. Ausgewiesene Parkplätze gibt es natürlich keine. Links neben einem 3er BMW aus den frühen 90igern lässt sich mit einem Katzensprung noch ein annehmbarer Parkplatz ergattern. Die, die dem BMW entschleichen, sehen eher aus, als wollten sie ins richtige Berghain. Dies scheint also „Das Berghain“ zu sein. Ein gelangweilter Türsteher sitzt zurückgelehnt hinter einer halb geöffneten Tür, woraus noch gedämpfte Sounds der Berliner Clubwelt raunen. Ist noch Soundcheck oder feiern die noch vom letzten Wochenende durch? Zumindest die schweren, im Boden verankerten Eisenzäune erinnern daran, dass hier zu bestimmten Zeiten Hunderte bis über 1000 feierhungrige Menschen anstehen, um zu 70 Prozent vom Türsteher aussortiert zu werden.

Ballettfiguren im Die Ballettgemeinde im „Berghain no-go Outfit“ schlendert elegant am Eingang links vorbei – dort scheint sich also das Programm des heutigen Abends abzuspielen. „Masse“ heißt die Komposition des Berliner Staatsballets und der Betreiber des genannten Clubs. Was soll uns dieser Name sagen? „Viel, schwer, brachial, gewaltig, leblos, dumpf“ sind nur einige Begriffe, die man damit in Verbindung bringen könnte. Manche davon passen auch auf die vorherrschende Musikrichtung. Ist es das? Dumpfe schwüle Hitze empfängt die Besucher im ersten Vorraum – vielleicht wurde aus Nostalgie das alte Heizkraftwerk nochmal angeworfen, mag man sich fragen. Der Türsteher beäugt Karte und Gast – „Heute leider nicht für Dich“ liegt im fraglos auf der Zunge. Und schon etliche Male musste er es heute herunterschlucken. Zumindest das „Guten Abend – viel Spaߓ spart er sich mit tiefster Überzeugung. Das ist nicht nur authentisch, sondern sogar echt. Berlin & Berghain heißen willkommen.

Masse ist auch das, was einem im Hauptvorraum mit der Bar entgegenschlägt. Beton, abgenutzt und unverputzt. Schwarz. Riesige Betontrichter ragen von der Decke, wodurch die Kohlen in die Heizkessel gefüllt wurden. Mit einem Berliner (Pilsener) in der Hand lässt man die imposante Szenerie noch eine Weile auf sich wirken. Viel mehr bleibt einem auch nicht übrig, denn ein spießiges Programmheft zum Einlesen gibt es selbstredend nicht. Würde man nun den Türsteher (einzigartig in der bundesdeutschen Theaterlandschaft) danach fragen, wäre wohl doch der Hausverweis fällig. Der Vorführungsbereich ist mit schwarzen Stoffbahnen vom Foyer in „Dark Room“-Optik getrennt. Über zwei eigens aufgestellte Metalltreppenaufgänge wird mit dem Gong die Bühne erklommen. Alles ist hier provisorisch – Theatersitze wie in einem Fußballstadion. Die Bühne ist schwarz und ungeschmückt. Wer möchte, kann das halb versunkene und ausgebrannte Heck eines Busses als Bühnenaufhübschung verstehen. Die Rückwand wird von einem Lüftungsschacht verziert, der wohl mal mehrere Etagen dieses 17 Meter hohen Raumes überbrückte. Er scheint genauso echt wie die Fliesenreste im ehemaligen Erdgeschoss. Das hat schon Flair!

Akt Eins beginnt. Wieder Dunkelheit, dann pocht elektronische Musik der sensiblen Art aus den Boxen in die Zuschauerkörper. Die Balletttänzer vollführen dazu ihren eigenen Tanz. Schweben, tauchen, schmiegen sich aneinander, fließen über die Bühne. Alles passiert in Harmonie mit der Musik und ist ungewohnt sanft verglichen mit der Erwartung und dem Hörensagen über das Berghain und den Techno an sich. Man könnte meinen, die Betreiber des Berghain wollten den Eltern vermitteln, es sei alles halb so wild. Das Ende des ersten Aktes wird beklatscht und die Tänzerinnen und Tänzer verbeugen und verabschieden sich.

Wie üblich bietet die erste Pause einige Minuten, das Gesehene zu verarbeiten. Die Erfrischung ist zur Hand, aber sprechen über das Erlebte fällt schwer. Es gibt keine Handlung, keine Geschichte, keinen Anfang und kein Ende. In diesem ist das Ballett der Musik ähnlich. Techno, wie es im üblichen Sprachgebrauch verwendet wird, ist ein Kontinuum, das Übergänge von verschiedenen Charakteristika oder Geschwindigkeiten kennt aber weder Abschluss noch Beginn. Man nimmt die Musik in sich auf und wird sie primär genießen – ebenso ist es mit diesem Ballett. Es ist für den Moment gemacht.

Der zweite und dritte Akt haben Ihren eigenen Charakter. Dieser lässt sich im Nachhinein kaum beschreiben, aber die musikalischen Akzente sind eben verschieden. Im dritten Akt taucht sogar etwas Akustikgitarre auf – jedenfalls glaubt man, dies herausgehört zu haben.

Die Veranstaltung ist zu Ende. Man spricht über die Geburt des neuen kulturellen Kindes. Es wurde ein neues Genre geschaffen. Hat dieses Genre eine Zukunft? Das wird die Zeit zeigen, wenn weitere Stücke zur Aufführung kommen. Ob allerdings für die Bühne ein völlig handlungsfreies Stück langfristig geeignet ist, scheint zweifelhaft. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Techno und Kultur – ersteres ist ein Genussmittel, letzteres bedingt Reflektion, die dafür feste Ankerpunkte benötigt.       
 

Malte Raudszus

 

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