Max Bronski: „Der Tod bin ich“

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Ein literarischer Thriller über Geheimdienste, moderne Physik und Musik

Die moderne Physik steht seit über einem halben Jahrhundert vor einem großen Problem. Zwei Theorien der Welterklärung stehen zueinander im Widerspruch. Albert Einsteins „Allgemeine Relativitätstheorie“ erklärt den Raum und die Zeit, d.h. den Kosmos, in  einem geschlossenen Formelsystem, während Werner Heisenbergs Quantenmechanik das subatomare Gefüge der Materie über Wahrscheinlichkeiten beschreibt. Während Einsteins Theorie den strengen Gesetzen der Mathematik folgt, sind bei der Quantenmechanik exakte Zuordnungen im Detail nicht mehr möglich. In gewissem Sinne herrscht der Zufall, was Einstein aufs Schärfste ablehnte. Dieses „Schisma“ der modernen Physik prägt alle weiteren Forschungen, und die Physiker suchen geradezu verzweifelt nach einer allgemeinen „Weltformel“, die beide Bereiche in einem einzigen konsistenten System abbildet. Weiteres dazu findet man in dem Buch „Die Vermessung des Universums“.

Nun wäre ein solcher Forschungsdisput eine recht dünne Grundlage für einen Thriller, wenn es nicht das Argument der Macht gäbe. Otto Hahns Kernspaltung hat auf geradezu makabre Weise bewiesen, dass die Erkenntnisse der modernen Physik erhebliche Auswirkungen auf das Machtgefüge der Welt haben. Also liegt es auf der Hand, dass alle Regierungen über ihre Geheimdienste möglichst früh über neue Erkenntnisse informiert sein möchten. Diese Konstellation hat Max Bronski seinem Krimi zugrundegelegt und zusätzlich noch musikwissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahungen hinzugefügt. Letztere bieten sich an, weil Musik entgegen landläufigen Ansichten sehr viel mit Physik und damit Mathematik zu tun hat.

Der Ich-Erzähler ist als Verwalter eines musealen Schlosses in Bayern tätig. Dieses Amt hat über Jahrzehnte der etwas sonderbare Junggeselle Eulmann ausgefüllt, der ihn wie einen Sohn behandelt und schließlich in diesen Posten lanciert hat. Als eines Tages der harmlose Eulmann erschossen aufgefunden wird, ohne dass ein offensichtlicher Raubmord vorliegt, gerät der Erzähler ins Sinnieren. Dann erhält er das Vermächtnis des Toten: ein Packen Blätter mit einer Autobiographie. Damit erfolgt auch eine Rückblende in die fünziger Jahre, denn Eulmann berichtet ebenfalls in Ich-Form.

Parallel dazu blendet der Autor über zu ehemaligen Geheimagenten der USA, Großbritanniens und der – mittlerweile verschiedenen – UdSSR. Alle drei ehemaligen Akteure der Geheimwelt sind derartig aufgeschreckt von diesem Mord an einem scheinbar unbedeutenden ehemaligen Schlossverwalter, dass auch der Leser mehr hinter dieser Figur vermutet.

Eulmann lebt Mitte der fünfziger Jahre unter seinem richtigen Namen Oftenhain als hoch begabter junger Physiker in der DDR und ist dort für höhere Aufgaben vorgesehen. Als die Stasi jedoch seinen Vater, einen aufrechten Pfarrer und Dissidenten, verhaftet und in Bautzen einsperrt, sieht Oftenhain in der DDR keine Zukunft mehr und flieht in den Westen. Dort jedoch erkennt der US-Geheimdienst sofort seinen Wert und setzt ihn derart unter Druck, dass er seine Mitarbeit zusagen muss. Man platziert ihn, was angesichts seiner wissenschaftlichen Befähigung kein Problem ist, als Assistent bei einem weltbekannten Physiker in der Schweiz, der angeblich an der bewussten Weltformel arbeitet.

Soweit, so schlecht, könnte man aus der Sicht Oftenhains feststellen, der nichts anderes will als in Freiheit zu forschen. Doch es kommt noch schlimmer, denn auch der Geheimdienst der Sowjetunion ist nicht faul und erpresst ihn mit dem Schicksal seines Vaters. So muss Oftenhain künftig neben seinem Professor zwei weiteren Herren dienen, um sich die Freiheit der Forschung und seinem Vater ein Minimum an persönlicher Freiheit zu erhalten.

Anhand der Autobiographie Oftenhains schildert der Autor nicht nur die Probleme der modernen Physik, sondern auch die Zweifel der Physiker über die richtige Vorgehensweise, über die Erfolgsaussichten ihrer Arbeiten, über die Bedeutung einer „Weltformel“ und über die Auswirkungen ihrer Arbeiten. Oftenhain ist mitten in diesen teils wissenschaftlichen, teils politischen Diskussionen und muss persönlich den tragischen Tod seines Vorgesetzten und Vorbilds erleben. Als er gezwungen wird, dessen Arbeitsergebnisse an sich zu nehmen und weiterzugeben, kommt er auf eine geniale Idee. Als Musiker hat er schon seit Längerem die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen beiden Wissensgebieten – vor allem die der Symmetrie – erkannt und codiert daher die brisanten wissenschaftlichen Erkenntnisse in musikalische Form, sprich: er komponiert eine mehrstimmiges Musikstück, in das er die mathematischen Forschungsergebnisse abbildet. Als ein Kollege dieses Musikstück zufällig entdeckt und nichtsahnend auf der Orgel spielt, läuft Oftenhain buchstäblich ein Schauer über den Rücken, hört er doch die weitgehend durchdachte Weltformel. Den Geheimdiensten übergibt er jedoch mathematisch-physikalische Forschungsergebnisse, die er soweit modifiziert hat, dass sie in die falsche Richtung weisen.

Diese Offenbarungen, über die allerdings bisher nur der Ich-Erzähler verfügt, erklären immer noch nicht, wer den mittlerweile seine Rente verzehrenden Oftenhain alias Eulmann umgebracht hat und warum. Anfangs glaubt auch der Leser, dass einer der Geheimdienste dafür verantwortlich ist, wobei das Motiv für den Termin der Tat unklar bleibt, doch die hektischen Aktiviäten all der ehemals beteiligten Spione, jetzt ebenfalls rüstige Rentner, stellen alle anfänglichen Spekulationen in Frage. Die alten Herren sind nicht nur sehr nervös, der Revolver sitzt ihnen auch immer noch sehr locker in der Tasche und kennt keinen Unterschied zwischen Freund und Feind.

Bronski schafft es, die politische Atmosphäre der sechziger Jahre noch einmal aufleben zu lassen, als sich die bis an die Zähne atomar bewaffneten Großmächte in Europa gegenüberstanden und trickreich jeden kleinen Vorteil zu gewinnen und zu nutzen versuchten. Bronski verzichtet auch weitgehend auf die üblichen Versatzstücke eines Thriller – Sex, Crime und „Cliffhanger“. Die Erortik spielt nur in Ansätzen eine Rolle, soweit sie zum Gesamtbild der Protagonisten oder zur Veranschaulichung geheimdienstlicher Methoden benötigt wird, und dann auch nur in Andeutungen. Die Gewalt beschränkt sich auf fast lakonisch zu nennende Schüsse aus Pistolen und wird nicht näher detailliert, und die Spannung ergibt sich aus der Gesamtkonstellation anstatt aus einzelnen „Actions“. Die Charaktere werden glaubwürdig dasgestellt und nie um des Effekts willen überzogen. Es gibt keine typischen „Bösen“ und „Guten“ sondern nur Menschen, die ihre eigenen Interessen oder die von Institutionen vertreten und die allgemein bekannten menschlichen Stärken und Schwächen zeigen. Im Mittelpunkt stehen die moderne Physik und ihr jeweiliger Kontext bis hin zu Politik und Geheimdienst; daneben noch die Musik, die immer wieder in Form von musikalischen Aufführungen oder eben als Deckmantel für brisante wissenschaftliche Erkenntnisse in den Vordergrund tritt.

Eine Auflösung des Falles gibt es am Ende natürlich auch, und der aufmerksame Leser ahnt die Lösung auch erst kurz vor Schluss, nachdem alle anderen Varianten schon ad absurdum geführt sind. Ein pointierter Showdown am Schluss befriedigt auch das Interesse derer, die eine Schlusspointe lieben. Ansonsten bemüht sich Bronski um einen ruhigen, erzählerischen Stil, der den Charakteren und Situationen Zeit zur Entwicklung gibt. Kurz gesagt: man kann sich in dieses Buch versenken und einen authentischen Eindruck sowohl der Epoche der sechziger Jahre als auch der grundlegenden Probleme der modernen Physik mitnehmen.

Das Buch „Ich bin der Tod“ ist im Kunstmann-Verlag unter der ISBN 978-3-88897-778-7  erschienen, umfasst 395 Seiten und kostet 16,95 €.

Frank Raudszus

 

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