Kulinarischer und künstlerischer Kitzel
Das Tanztheater des Staatstheaters Darmstadt wagt mit „Tödlicher Genuss“ ein ungewöhnliches Experiment
Natürlich kann man das Programm dieses Tanztheaterabends als eine ganz normale Aufführung betrachten, der aus Marketing-, Umsatz- oder Effektgründen noch ein Abendessen angehängt worden ist. So mancher wird es auch so gesehen haben und den kulinarischen Teil als schnöden Konsum verweigert haben. Dabei verlieh erst diese Doppelfunktion dem Abend die richtige Würze. Das ist nicht als Kritik an der eigentlichen Choreographie des vorgestellten Stücks zu verstehen, das ohne den zweiten Teil etwa bedeutungslos geblieben wäre, sondern soll zeigen, dass Theater auch den Mut haben muss zu neuen Ansätzen, das Publikum zu beteiligen und sich von dem herkömmlichen „Guckkasten“-Prinzip zumindest zeitweise zu lösen. Das Darmstädter Schauspiel hat das bereits mit „Fritz Haber“ erfolgreich durchgespielt, wenn auch ohne Essen. Andere Versuche, das Publikum an der jeweiligen Produktion zu beteiligen, etwa durch Mitspielen – à la René Pollesch – oder Mittanzen, enden leicht in Peinlichkeit, Lächerlichkeit oder Beiläufigkeit. Hier jedoch bezog das Programm die Zuschauer zwar ein, behielt jedoch den choreographischen Teil fest in eigener Hand.
Der Abend begann – im neutralen Sinne – konventionell. In knapp eineinhalb Stunden setzte die Darmstädter Tanztruppe vom Mei Hong Lin ein menschliches Kernthema in eine temporeiche und originelle Choreographie um. Im Mittelpunkt steht eine Dreiecksgeschichte. Ein verheirateter Mann hat eine Geliebte. seine schawangere Ehefrau kommt dahinter, verliert im emotionalen Schock ihr Kind und verfällt anschließend dem Hass und Rachegelüsten. Der des Kochens unkundigen Geliebten des Mannes bringt sie in geheuchelter Freundschaft das Kochen bei, jedoch auf wahrhaft satanische Weise. Den alten Medizinerspruch, dass jede Medizin in falscher Dosierung Gift sei, wendet sie auf Zutaten und Gewürze an und erreicht so, dass die Konkurrentin ihren Geliebten unfreiwillig vergiftet.
Das Ganze kann man auf verschiedene Weisen künstlerisch darstellen: als tragisch-dramatischen Psychothriller, der in schwarzem Fatalismus die falschen Beziehungen in unserer heutigen Gesellschaft entlarvt – oder als menschliche Komödie, die das Immergleiche in den elementaren menschlichen Beziehungen mit jeweils einem Schuss Sarkasmus, Ironie und (Galgen-)Humorauf den Punkt bringt. Mei Hong Lin, der man in der Rückschau auf frühere Choreographien eher Ersteres zugetraut hätte, hat hier konsequent die zweite Lösung gewählt. Dabei hat sie jedoch streng darauf geachtet, den durchaus tragischen Hintergrund der Geschichte nicht im Klamauk einer überzogenen Groteske untergehen zu lassen, sondern die richtige Balance zwischen Ernsthaftigkeit und dem Humor des „nihil humanum mihi abest“ gefunden.
Als Pendant zu den drei von ihren Emotionen geschüttelten Protagonisten lässt Mei Hong Lin den Tod auftreten, der ja auch in barocken Dramen – und etwas Barockes hat diese Choreographie – oft durch die Szene schreitet. Wo immer sich ein Konflikt anbahnt, naht sich der schwarze Geselle und umkreist mit mephistophelischer Schmeichelei seine zukünftigen Opfer, für diese unsichtbar. Wie sein großer Kollege aus dem deutschen Nationaldrama gewinnt nicht nur er seine Kunden lieb, sondern auch das Publikum entwickelt im Laufe des Abends eine gewisse Sympathie für ihn, weil er die Menschen in ihren tiefsten Beweggünden versteht. Der Teufel verteilt nie Noten und verlangt Besserung: er liefert mit seinem Verständnis wahre Absolution.
Um Lebendigkeit und gefühlte Aktualität zu intensivieren, lässt Mei Hong Lin die Musik zu dieser Choreographie nicht vom Band kommen, sondern hat sich der Künste der „Schauspielmusik“ bedient. Michael Erhard, der Leiter der Schauspielmusik, hat dazu eine insgesamt fünfköpfige Band zusammengestellt – Klavier (er selbst), Saxophon, Schlagzeug, Gitarre und Bass -, die das Geschehen am Bühnenrand musikalisch gestaltet. Die Musik ist dabei nicht nur Vorlage für tänzerische Figuren sondern integraler Bestandteil der Choreographie und agiert auf Augenhöhe mit den Darstellern auf der Bühne. Dabei wandert das Quintett durch nahezu alle Musikstile der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit. Da kommt Swing genauso zu Gehör wie erotisch groovende „Latin Music“, andere Stücke klingen wie die „minimal music“ eines Philip Glass, und sogar heißer Rock´n Roll lässt die Bühne erzittern. Die Musik hat Michael Erhard selber komponiert bzw. arrangiert, und sie vermittelt das Lebensgefühl der letzten fünfzig Jahre, verweist also durchaus auf unsere Zeit.
Bei Bühne und Kostümen geht Mei Hong Lin jedoch über unseren Zeithorizont hinaus. Die drei Hauptpersonen – Sven Gettkant als untreuer Mann, Andressa Miyazato als betrogene Ehefrau und Mireia González Fernández als Geliebte – treten in heutiger Alltagskleidung auf, doch der Rest der Compagnie wechselt die Kostüme je nach Situation und verweist auch mal auf weiter zurückliegende Zeiten. Gleich das erste Bild zeigt eine Szenerie, die direkt Breughels „Schlaraffenland“ entsprungen sein könnte. Totes, zum Verzehr bestimmtes Getier, allerlei Küchengeräte und herumspringende Bedienstete in Küchenkleidung oder schlemmende, prassende und anderen Gelüsten frönende Figuren in entsprechenden Kostümen prägen das Bild. Vor dieser Kulisse spielt sich die Turtelei von Ehemann und Geliebter ab, während die schwangere Ehefrau aus dem Hintergrund das Liebesspiel verfolgt.
In diesem Stil geht es weiter. In insgesamt zwölf Szenen wird das Drama um den untreuen Ehemann und die Rache der betrogenen Ehefrau dargestellt, alles aus der Perspektive eines tödlichen kulinarischen Genusses. Dabei bezieht sich Mei Hong Lin auf verschiedene einschlägige Kunstwerke, die das Thema auf verschiedene Weise variieren. Breughels Schlaraffenbild haben wir bereits erwähnt; später wird in einer eigenen Szene noch „Das große Fressen“ nachgespielt, bei dem die Teilnehmer der Tafel wie geistesgestört Essen und Trinken zusprechen und anschließend tot dahinsinken. Eine andere Szene erinnert, wenn auch ohne Bezug zum Schlemmen, an „Marats Tod“, wenn ein Tänzer in der Badewanne einen Beziehungskrach mit seiner Noch-Geliebten ausficht. Das Geflecht der Zitate ist so dicht, dass es schwerfällt, alle säuberlich voneinander zu trennen. Viele Szenen wecken – wie die Badewannenszene – nur kurze, flackernde Assoziationen an etwas Bekanntes, die sofort von anderen Bildern überdeckt werden.
Doch auf eine intellektuelle Durchdringung des tänzerischen Geschehens kommt es sowieso nicht an. Mei Hong Lin öffnet sozusagen die „Büchse der Zitate“ und spielt virtuos mit mit dem, was dieser Büchse entsteigt. Wenn die betrogene Ehefrau ihr verlorenes Kind beweint, köpft ein Tänzer in stoischer Gelassenheit einen Schwan – oder ist es eine weiße Gans? -, und später beweint eine Tänzerin – „alter ego“ der Ehefrau – die in dem Vogel verkörperte Seele des Kindes.
Das Ende des untreuen Ehemannes besorgt dieser selbst mit Hilfe eines überdimensionalen Aquariums, als ihm klar wird, dass er an einer tödlichen Vergiftung leidet. Doch die kriminalistische Seite an dieser Choreographie ist zweitrangig. In erster Linie geht es um die ewig wiederkehrenden Emotionen um Liebe, Untreue, Verrat und Rache. Statt jedoch diese urmenschlichen Befindlichkeiten in bitterernster Psychologie zu sezieren, zeigt Mei Hong Lin sie als Panoptikum menschlicher Schwächen und Obsessionen. Mit der pointierten, fast archetypischen Darstellungen der Emotionen verweist sie auf die Unveränderlichkeit menschlicher Verhaltensweisen und die Fragilität wenn nicht Fragwürdigkeit der von Menschen gemachten Moralsysteme, die im Zweifelsfall der Realität der unmittelbaren Emotionen nicht standhalten.
Die Tanztruppe des Staatstheaters kann in dieser Produktion voll aus sich herausgehen und sowohl ihre tänzerischen als auch vor allem ihre darstellerischen Fähigkeiten zeigen, die sich vorwiegend in der Körpersprache äußern, wenn auch hin und wieder die Sprache zum Einsatz kommt. Gefühle wie wilde Lust, Schmerz, Trauer, Eifersucht und Rache lassen sich wunderbar durch körpersprachliche Mittel darstellen, und die Tänzer und Tänzerinnen nutzen diese Möglichkeiten nach allen Regeln der Kunst. Diese Choreographie liefert keine psychologische Tiefenforschung sondern handfeste Gefühlswallungen aller Art.
Nach dem ersten Teil bleibt beim Zuschauer ein gewisser Gefühlsstau, der durch den nahezu grotesken Freitod des Ehemannes nicht abgebaut wird. Dazu dient das anschließende Diner mit dem französischen Chefkoch, der nicht nur mitten auf der Drehbühne ein achtgängiges Menü vom Feinsten kreiert sondern sich auch in das weitere Spektakel einbringt. Denn das Tanzen und Schauspielern ist noch nicht beendet. Bei diesem intimen Diner auf der Bühne servieren die Mitglieder der Tanztruppe nicht nur die Speisen und Getränke auf unnachahmliche, tänzerische Art, sie variieren und karikieren auch die Szenen der eben gezeigten Choreographie, jetzt eine Spur grotesker und damit humoristischer als vorher. Damit setzen sie nicht nur ein Zeichen künstlerischer Selbstironie sondern relativieren auch ein weiteres Mal die traurige Dreiecksgeschichte, die allein wegen ihrer Massenhaftigkeit im wahren Leben keine einzigartige Tragik darstellt. Die schmachtenden Bewegungen verschmähter Liebe und die rollenden Augen eifersüchtiger Rache kennzeichnen keine einzigartige, individuelle Situation sondern eine Konstante der menschlichen Gesellschaft.
Und die Musik von und mit Michael Erhard und seiner Band spielt zu diesem Dinner noch einmal auf, dieses Mal jedoch ausschließlich mit Evergreens des Swings und alter Musicals, die alle von Liebe, Untreue und Eifersucht erzählen.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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