Deutsche Erstaufführung von Lukas Linders Tragikomödie „Ich war nie da“ in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt

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Katharina Hintzen (Flegel), Tom Wild (Arzt), Diana Wolf (Fandra Fatale)

Der langsame Untergang eines Ichs    

Deutsche Erstaufführung von Lukas Linders Tragikomödie „Ich war nie da“ in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt 
Bereits in dem Stück „Das traurige Schicksal des Karl Klotz“ hat der Autor den Untergang eines unterdrückten und verachteten Menschen thematisiert, der sich nicht gegen seine ignorante Umwelt wehren kann. In seinem neuen, „Tragikomödie“ bezeichneten Schauspiel nimmt er diesen Faden wieder auf und stellt hier die unaufhaltsame Auflösung eines Individuums dar, das unter der Nichtbeachtung seitens der Gesellschaft leidet, jeglichen Lebensmut verliert und schließlich seinem Leben ein Ende setzt.
Anna-Sophia Biersch hat auf der Bühne die fünfziger Jahre wiederauferstehen lassen. Nierentisch-Möbel und lebensgroße Pappfiguren aus der biederen Hausfrauenwerbung der Nachkriegszeit prägen das Bild, und weiße, am Bühnenhimmel hängende Wölkchen runden das Bild dieser „heilen Welt“ ab. Warum Regisseur Martin Ratzinger bei der zeitlichen Verortung soweit zurückgreift, erschließt sich dem Zuschauer nicht ganz, denn der Kontrast zwischen der so gerne beschworenen heilen Welt und der allgegenwärtigen Ignoranz und geistigen Enge lässt sich ohne Schwierigkeit auch heutzutage finden. Aber er erzeugt mit diesem Retro-Trick eine groteske wenn nicht absurde Atmosphäre, die vor allem den jüngeren Besuchern nicht mehr gegenwärtig ist.

Gleich in der ersten Szene will sich Fandra Fatale (Diana Wolf) aus dem Fenster stürzen. Unten sieht sie bereits ihre Körperumrisse mit Kreide aufs Pflaster gezeichnet und passt ihren Körper in Gedanken diesem graphischen Sarg an. Doch als sie gerade springen will, ruft sie ein junger Mann von der Straße an und bietet ihr gedankenschnell eine Stelle als Schauspielerin an. Ob er dabei an Fandras Rettung oder an seine unbesetzte Rolle denkt, bleibt dahingestellt. Nach einigem Zögern und Andeutungen des finalen Sprungs lässt Fandra sich retten und folgt dem Regisseur, der sich als Jorgos Brontosaurus vorstellt, in sein Theater, wo sie auf den Schauspieler Mads stößt, der ihr Partner auf der Bühne sein wird.
Bereits an dieser Stelle fragt man sich nach der Bedeutung der Namen, die natürlich absichtlich so programmatisch gewählt sind. Fandra erweist sich tatsächlich als eine fatale Person, der buchstäblich nichts gelingt. Ihr Freund hat sie verlassen, und beruflich scheint sie auch nicht erfolgreich zu sein, da sie die Rolle sofort annimt. Der Brontosaurus war ein Riesensaurier und lebte vor 150 Millionen Jahren. Als so ein vorzeitliches Ungetüm scheint der Autor auch Regisseure oder zumindest den in seinem Stück zu betrachten, den Tom Wild mit einer entsprechenden Präsenz ausstattet. Jorgos (Brontosaurus) interessiert sich nur für sein Stück und seinen Erfolg, die Schauspieler sind nur Werkzeuge und Manövriermasse. Der Schauspieler Mad(s) ist tatsächlich etwas verrückt, bespiegelt sich permanent selbst und hantiert mit Sprachhülsen – alles muss „adäquat“ sein.
Nun beginnt ein Spiel, das auf dem Theater stets beliebt ist: man spielt Theater und kann durch dauernden Ebenenwechsel ein Vexierspiel erzeugen, das die Zuschauer zwangsläufig irritiert. Nie weiß man genau, ob die Darsteller jetzt gerade in der „Realität der Fiktion“ oder in der „Fiktion der Fiktion“ agieren, sprich: befinden sie sich in ihren Rollen oder in ihrer eigenen Identität. Linder spielt dabei durchaus kunstvoll mit dem Identitätsproblem, das wohl jeder (gute) Schauspieler kennt. Je mehr man sich mit seiner Rolle identifiziert, desto schwerer wird die Rückkehr in das eigene Ich, und so mancher kann irgendwann die Welt der fiktiven Rollen nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden. In dem Theaterstück, das Brontosaurus inszeniert, geht es um ein Liebespaar, dargestellt von Fandra und Mads. Dabei soll Fandra Mads ihre Liebe zu ihm gestehen und er sie küssen. Soweit, so einfach. Aber der Schauspieler Mads drückt sich nach allen Regeln der Kunst und ungeachtet der Regieanweisungen und des Insistierens von Fandra gegen diesen Kuss. Durch die mehrmalige Wiederholung der Szene wird schnell klar, dass sich die neue Schauspielerin Fandra in ihren Kollegen verliebt hat und diese Tatsache nur schwach hinter ihrer Rolle verbergen kann. Mads scheint das zu spüren und quält sie mit seiner Kuss-Verweigerung. Es ist durchaus möglich, dass er ihre Verliebtheit spürt und einen gewissen männlichen Sadismus an Fandra auslebt. Diese steigert ihre – zur Rolle gehörende – Forderung nach dem Kuss fast bis zur Selbstentblößung, und Mads nutzt diese Schwäche gnadenlos und schadenfroh aus.

Stefan Schuster (Mads), Diana Wolf (Fandra Fatale), Tom Wild (Jorgos Brontosaurus)In Fandras Wohngemeinschaft hat ihre Mitbewohnerin Flegel – ebenfalls ein treffender Name – ihren Freund einquartiert und bittet um der Intimität willen Fandra ungeniert um öftere abendliche „soziale Abwesenheit“. Am besten, Fandra „ist nicht da“. Die Situation in der WG verdeutlicht das Bühnenbild mit einem Holzhäuschen in der Größe einer HUndehütte, in die sich die drei Bewohner zusammen hineinquetschen.
Die Misserfolgserlebnisse setzen sich bei Fandras Eltern fort. Ihre Mutter lebt in einer Illustriertenwelt mit schönen Kindern und erfolgreichen Schwiegersöhnen. Ihre Tochter ist für sie eine einzige Versagerin, da sie ihren stattlichen Freund vergrault hat und der Mutter wohl nie Enkel bescheren wird. Das gemeinsame Abendbrot besteht nur aus Vorwürfen und Klagen über ihre missratene Tochter. Der Vater, ein wortkarger Rollstuhlfall, sitzt hier ale lebensgroße Pappfigur im Stil der fünfziger Jahre am Tisch und brummt aus dem Off einige unverständliche Worte. Als es Fandra endlich gelingt, mit dem widerstrebenden Mads eine Beziehung einzugehen und ihn ihrer Mutter vorzustellen, verbünden sich die beiden gegen sie, weil sie die ewigen Vorschriften und Klagen ihrer Mutter nicht mehr ertragen kann. Am Ende trennt sich Mads wieder von ihr. Für den Zuschauer scheint dies kein großer Verlust zu sein, doch Fandras Leben hängt längst an dem dünnen Faden auch der kleinsten Zuwendung.
Der Arzt, den Fandra wegen ihrer Depressionen zu Rate zieht, stellt sich – ähnlich wie der Psychiater in „Karl Klotz“ – als grotesker Scharlatan heraus, der ihr schließlich übergroße Schuhe – hier Betonblöcke – verschreibt, damit sie festen Kontakt zur Erde bekommt. Fandra macht alles mit und schlurft mit dem schweren Schuhwerk über die Bühne, unfähig, sich noch zu bewegen. Ein Symbol für die zunehmende Bewegungslosigkleit und Erstarrung ihrer missachteten Seele. Als am Ende völlig überraschend ihr verflossener Freund Sepp wiederkommt und um Verzeihung bittet, erkennt sie dessen Oberflächlichkeit und sein geringes Interesse an ihr als Person.
Martin Ratzinger hat diese Geschichte als Groteske inszeniert, da eine ernsthafte Inszenierung leicht in Kitsch hätte abgleiten können. Alle Rollen werden bewusst überzeichnet. Hier geht es nicht um charakterliche Feinzeichnung sondern um Archetypen. Das objektive Wesen der einzelnen Figuren spielt gegenüber ihrer Wirkung auf Fandra keine Rolle. Sie gewinnt von jedem ihrer Mitmenschen ein Bild, das sich hauptsächlich aus ihren persönlichen Erlebnissen, Sehnsüchten und Ängsten zusammensetzt. Wenn erst einmal Angst und Enttäuschung die Oberhand gewonnen haben, erscheint jeder Mensch als Feind, und alle Handlungen und Äußerungen werden nach diesem Muster bewertet. Fandra hat nie ein gesundes Selbstbewusstsein aufbauen können, und jeder noch so kleine Misserfolg bestätigt ihre Überzeugung, unbedeutuend zu sein, für ihre Umwelt nicht zu existieren, „nie dagewesen zu  sein“.
Ein origineller Regieeinfall liefert dann gegen Schluss noch eine Pointe. Als Fandra und Mads schließlich in der ersten Aufführung ihre Szene spielen, erhält sie überraschend ihren Kuss von Mads, und dann erlischt das Licht. Der Zuschauer fragt sich, ob das nun das Ende sei. Zaghaft einsetzender Beifall angesichts des plötzlichen Endes und eine kräftige „Buh“-Rufe, die man für überzogen hält. Doch es ist nur das Ende des Theaters im Theater, und der eigentliche Schluss kommt noch, mit dem finalen Schlag gegen Fandras Selbstbewusstsein. Das Ende schließt dann nahtlos an die Eingangsszene an.
Diana Wolf spielt die unglückliche Fandra mit viel Gespür für die zunehmende Unsicherheit und das abnehmende Identitätsgefühl dieser jungen Frau. Sie löst sich im Laufe dieser knapp achtzig Minuten buchstäblich in Nichts auf. Stefan Schuster gibt einen hyperaktiven Mads, der seine eigenen Identitätsprobleme hinter großen Worten und hektischer Aktivität versteckt, und Tom Wild gibt den Regisseur als Möchtegern-Rambo, der aber angesichts des Erfolgs ehemaliger Mitschüler in einen Weinkrampf ausbricht. Karin Klein gibt die zickige, frustierte Mutter mit der Schärfe enttäuschter Lebenslügen. Katharine Hintzen spielt die egoistische Flegel udn István Vincze deren Freund Hans sowie den Sepp.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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