Als zweites Werk des Büchner-Jahres inszeniert das Darmstädter Schauspiel die Komödie „Leonce und Lena“

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Klaus Ziemann (Leonce), Gabriele Drechsel (Lena), Uwe Zerwer (König Peter), Projektion: Antonio Lallo (Leonce), Ronja Losert (Lena)

…wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!  

Als zweites Werk des Büchner-Jahres inszeniert das Darmstädter Schauspiel die Komödie „Leonce und Lena“
Das letzte Mal ist Büchners „Leonce und Lena“ im Jahr 2001 auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt zu sehen gewesen. Damals hatte Regisseur Kreindl das Stück als Protest einer perspektivlosen Punk-Jugend auf einer Bühnennachbildung des Darmstädter Luisenplatzes inszeniert. Nun, im Büchnerjahr 2013, stehen wiederum alle  Büchner-Dramen – und damit auch „Leonce und Lena“ – auf der Liste des Staatstheaters Darmstadt und anderer Bühnen.

Andreas Vögler (Valerio), Ronja Losert (Lena), Antonio Lallo (Leonce), im Hintergrund: Gabriele Drechsel (Lena)Regisseur Malte Kreutzfeld ist bei seiner Inszenierung von einem vollständig anderen Ausgangspunkt gestartet. Er erschließt sich das Stück vor allem aus der sprachlichen Perspektive und hat ihm dabei völlig neue Aspekte abgewonnen. Wer sich den Text aufmerksam durchliest, stellt fest, dass es dabei weniger um den Austausch von handlungstreibenden Ansichten oder um die Formulierung konkreter Konflikte geht, sondern vielmehr um innere Zustände, die von einem hohen Maß an Verzweiflung und Resignation geprägt sind. Büchner ahmt in seinen Dialogen zwar die Sprache des frühen 19. Jahrhunderts nach, vor allem bei der überzeichneten Darstellung der typisch romantischen Melancholie, doch sind diese Texte stets doppelbödig und lassen sich auch als Satire auffassen. Die Zensur der lokalen Behörden wachte damals akribisch über alle Äußerungen ihrer Bürger, vor allem der jüngeren, vermeintlich aufmüpfigen. Büchner hat die Zensur am eigenen Dichterleib erfahren. Die märchenhafte Handlung, die auch heute noch als rührende Geschichte für Kinder durchgehen würde, verfolgt dabei einen doppelten Zweck: einerseits soll sie die eigentliche Satire durch ihre vordergründige Harmlosigkeit und Affirmation des Bestehenden kaschieren; andererseits wirkt gerade das biedere Happy End des „deus ex machina“ Zufall wie eine hohnlachende Parodie der gefühlsseligen Herz-, Schmerz- und Sehnsuchtsliteratur der Romantik.

Die Sprache erfüllt dabei noch eine zusätzliche satirische Funktion, die geradezu subersiv die schlichte Handlung um Liebe und Verwechslung unterläuft. Valerio, der Begleiter von Prinz Leonce, gefällt sich in vielerlei Wortspielen, die von geistreichen Kontrasten bis zum Kalauer reichen und das Stück mit permanenter Ironie durchsetzen. Jegliche scheinbar ernsthafte – melancholische oder philosophische – Äußerung vor allem des Prinzen relativiert Valerio umgehend durch eine passende Verdrehung oder Verfremdung. Er entlarvt Leonces Melancholie sozusagen „a posteriori“ als Mode der Romantik, nachdem schon Leonce in seinen todesseligen Abschweifungen kräftig im Bodensatz der romantischen Befindlichkeiten gerührt hat. Und doch enthalten diese Ausflüge in die Lebensweisheiten stets einen Kern von Ernst und Wahrheit, der auf die unerträglichen Zustände in der von Restauration, Repression und Rechtlosigkeit geprägten Zeit des Biedermeier verweist.

Andreas Vögler (Valerio), Antonio Lallo (Leonce), Klaus Ziemann (Leonce)Büchners Sprache trägt dabei nicht nur subversive und satirische Züge, sondern sie überzeichnet das schwärmerische, entgrenzte Denken und Fühlen der Romantik hin zu einer Form, die man am ehesten mit dem Expressionismus vergleichen kann. Das Ernsthaft-Schwärmerische der Romantik mutiert bei ihm zum gequälten Aufschrei einer Epoche, die erst achtzig Jahre später zur vollen Blüte kommen sollte. Büchner war seiner Zeit offensichtlich um Jahrzehnte voraus, ahnte es, konnte es aber – natürlich – nicht wissen.

Zwei Erkenntnisse dieser Textschau hat Malte Kreutzfeld seiner Inszenierung zugrunde gelegt: gleich in der ersten Szene drückt Leonce seinen Wunsch aus, „sich einmal auf den Kopf sehen zu können“. Er möchte aus sich – und seiner Umwelt – heraustreten und als befreiter Geist auf sein Leben herabschauen können. Außerdem äußern Leonce und Lena, die gegen ihren Willen und unbekannterweise miteinander verheiratet werden sollen, beide das Gefühl, innerlich gealtert zu sein; eine Folge der Zustände, die ihnen keine eigene Identität zuerkennt und sie in Abhängigkeiten hält. Subjektiv fühlen sich beide wie jahrelang eingekerkert.

Regisseur Kreutzfeld versinnbildlicht diese beiden Eckpunkte seiner Interpretation dadurch, dass er die beiden Hauptrollen doppelt besetzt, einmal mit jungen Darstellern (Ronja Losert und Andreas Vögler) und einmal mit älteren (Gabriele Drechsel und Klaus Ziemann). Schon in der ersten Szene lässt Kreutzfeld das ältere Paar – aus einer echten oder vorweggenommenen Alterssituatiion – die Worte sprechen, die erst in der vierten Szene des zweiten Aktes fallen und um den Satz „lass mich dein Todesengel sein“ kreisen. Dazu zeigt er das jüngere Paar in einer Video-Projektion auf der Bühnenrückwand. Eine vom Bühnenhimmel hängende Kamera nimmt das auf dem Bühnenboden liegende Paar auf und kippt es sozusagen in die Senkrechte der Rückwand. Leonce und Lena als gespaltene Persönlichkeiten: einmal als innerlich gealterte und resignierte und einmal als junge, dem kommenden Leben mit Unischerheit und Beklemmungen entgegensehende. 

Damit löst sich Kreutzfeld von der realistischen Abbildung der Handlung, die sowieso nur als Allegorie der Unmöglichkeit eines gelungenen Lebens aufzufassen ist, und ergreift konsequent die Perspektive des späteren Expressionismus, der Beziehungen und Kausalitäten in Emotionen, Ängste und eixtenzielle Grenzsituationen auflöst. Entsprechend wechseln die Handlungselemente und die Beziehungen auf der Bühne permanent, wobei Kreutzfeld geschickt – bisweilen auch verwirrend – mit der Duplizität der Hauptpersonen spielt. Damit schält er nicht nur den expressionistischen sondern auch den surrealistischen Kern dieser Komödie heraus. In der Inszenierung von 2001 hatte Heinz Kreindl mit einer Doppel-Inszenierung von „Leonce und Lena“ und Ionescos „Stühlen“ Ähnliches angestrebt, aber auf zwei Stücke verteilt, hier setzt der Regisseur das Surreale in Büchners Stück selbst in die Bühnenwirklichkeit um. So wie Leonce nicht etwa einem Handlungsziel entgegenstrebt sondern unablässig seinen melancholischen Befindlichkeiten nachhängt, löst auch Kreutzfeld die Handlung in viele Einzelelemente auf, ohne jedoch den großen Zusammenhang aufzugeben. Auch bei ihm tritt König Peter (Uwe Zerwer) als lächerlicher Potentat mit „selbstgestrickter“ (!) Krone auf und schwadroniert in der pointierten Dekadenz des Hochadels über Leben und Denken; auch bei ihm sind die Vasallen und Minister rückgratlose Speichellecker, die dem König nach dem Mund reden, und auch bei ihm kommt die ganze Lächerlichkeit der Kleinstaaterei zum Ausdruck, wenn die Bediensteten vom Schloss des Königs aus  alle Grenzen mit eigenen Augen überschauen können oder wenn Leonce und Valerio bei ihrer Reise im Stundenrhythmus an Ländergrenzen stoßen.

Nikolaus Porz hat dazu eine zweigeteilte Bühne geschaffen, die zu Beginn von einer roten Couchgarnitur dominiert wird, in der Leonce und Valerio ihren Gedanken nachhängen. Für die Videoprojektionen fährt dann eine Wand herunter. Im hinteren Teil der Bühne ist eine sechsköpfige Band unter der Leitung von Michael Erhardt platziert, die das Geschehen punktuell mit Musik unterlegt. Das ist zu Beginn etwas störend, wenn die Musik den leisen Dialog des „gealterten“ Paares überdeckt, später aber wird die Musik zum integralen und nicht mehr störenden Teil der Inszenierung. Wenn die beiden Paare – Leonce und Valerio sowie Lena und ihre Gouvernante (MaikaTroscheit) –  auf Reisen gehen und sich treffen, steht ein einzelner Turm im Hintergrund der Bühne, auf den sich Leonce und Lena einzeln oder als Paar zurückzuziehen und die unter ihnen liegende Welt aus der Vogelperspektive – „man müsste sich auf den Kopf sehen können“ –  mit einer Mischung aus Melancholie und Resignation betrachten. Diese Isolation auf dem Turm verdeutlicht die Einsamkeit der beiden, die sich in dieser Welt nicht mehr wohlfühlen.

Malte Kreutzfelds Inszenierung lebt von ihrer expressionistischen Bildersprache und der facettenhaften Wiedergabe der Handlung. Fast könnte man von Dekonstruktion sprechen, mit der der Regisseur die vordergründig eingängige Geschichte in ihre widersprüchlichen, ja: subersiven Elemente zerlegt. Da verläuft kaum eine Szene im Sinne einer realistischen Wiedergabe, sondern jede Figur unterläuft den absehbaren Handlungsstrang mit satirischen, sarkastischen oder gar – Valerio! – zynischen Bemerkungen. Nichts ist so, wie es zu sein scheint, allem wohnt die Unwahrhaftigkeit und Verstellung inne.

Das Ende, das im Märchen stets die glückliche Fügung durch das Schicksal oder höhere Mächte feiert, steht hier allerdings nur für die Unveränderbarkeit der Welt. Man mag der Welt entfliehen und anderswo ein neues Glück suchen, landet jedoch stets wieder dort, wo man aufgebrochen ist. Dies ist Büchners zutiefst pessimistische oder zumindest verzweifelte Erkenntnis, versteckt in einem von allen – tumben – Bauern zwangsweise bejubelten „Happy End“.

Die Darsteller setzen Kreutzfelds Idee konsequent um. Dabei entfaltet – wie in den klassischen „Buffo“-Stücken – die Rolle des Bediensteten die größte Wirkung. Valerio darf gegen alle Regeln und Konventionen verstoßen, da er sowieso nichts zu verlieren hat, und äußert sich über alles im respektlosen, die Dinge beim Namen nennenden Ton. Andreas Vögler füllt diese Rolle mit viel Temperament und raumfüllendem Spiel aus. Die zweite komödienhaft pointierte Rolle spielt Uwe Zerwer mit dem König Peter. Er schafft es, dieser Figur die Ambivalenz zwischen dem einfältig-lustigen König des Kindermärchens und der grotesken Parodie des real existierenden Landesfürsten zu verleihen. Mal möchte man über ihn lachen, dann wieder bleibt dieses Lachen im Halse stecken. Büchner gönnt dieser Figur nicht einmal ein wenig Despotie, sondern übergibt sie einfach der Lächerlichkeit, und Uwe Zerwer balanciert gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Satire und Klamotte.

Die Rollen der beiden Hauptpersonen sind dagegen schon schwieriger, weil gebrochen. Sie geben keine kritischen oder gar aufsässigen Reden von sich, sondern verharren in einer melancholsichen Apathie, die Büchner ihnen verschrieben hat, um die Hilflosigkeit gegenüber den herrschenden Mächten zu zeigen. Auf der anderen Seite bietet gerade das Liebespaar eine ideale Gelegenheit, um den Herzschmerz der Romantik zu karikieren. Antonio Lallo (Leonce) und Ronja Losert (Lena) leben sich in diese schwermütigen Seelen gut ein, wobei Antonio Lallo, von anderas Vögler alias Valerio motiviert, durchaus auch einmal andere Seiten zeigen darf. Klaus Ziemann und Gabriele Drechsel sind als gealtertes Paar eher Projektionen und stellen das mit der entsprechenden Zurückhaltung dar. Maika Troscheit ist eine resolute Gouvernante, Simon Köslich ein schmeichelnder, stets buckelnder Präsident.  Aart Veder und Gerd K. Wölfle spielen den Staatsrat als eine entfernt an Stan Laurel und Oliver Hardy erinnernde Parodie desorientierter Bürokraten.

Das Premierenpublikum schien anfangs ein wenig irritiert, freundete sich dann aber zusehends mit dieser Inszenierung an spendete zum Schluss kräftigen Beifall.

Weitere Aufführungen finden am 28. und 19. Juni sowie am 3. Juli statt.

Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
 

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