Das Rheingau-Musik-Festival eröffnet das diesjährige Programm mit Wagner und Mahler

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Horn (l.) und Klarinette (r.) vor dem Konzert
Liebesglück und Todesahnung  

Das Rheingau-Musik-Festival eröffnet das diesjährige Programm mit Wagner und Mahler
An Richard Wagner gab es in dessen Jubiläumsjahr auch für das Rheingau-Musik-Festival kein Vorbeikommen. Und so plazierte man ihn gleich an den Beginn des Eröffnungskonzertes am 29. Juni in der Basilika von Kloster Eberbach. Doch neben dem 200. Geburtsjahr des deutschen „Musiktheater-Titanen“ gab es noch ein anderes Ereignis mit musikalischem Hintergrund zu würdigen: nach sechs Jahren als Chefdirigent des HR-Sinfonieorchesters beendete Paavo Järvi seine Tätigkeit in Frankfurt, um nach Japan zu wechseln. Das Eröffnungskonzert im Rheingau war sein Abschiedskonzert in Deutschland. Sicher wird er zu Gastauftritten zurückkehren, aber das HR-Orchester muss sich auf einen neuen Chefdirigenten einstellen.

Doch an diesem Abend waren Paavo Järvi und sein Orchester noch einmal in höchstem Maße präsent und präsentierten Musik des 19. Jahrhunderts in einer akustischen Umgebung, die Paavo Järvi selbst in seinen Abschiedsworten als mehr denn problematisch umschrieb. Das lange, enge Mittelschiff der historischen Basilika strahlt zwar unbestritten eine sakrale und weihevolle Atmosphäre aus, bietet aber mit ihren vielen Steinsäulen, den abgetrennten Seitenschiffen und den steinernen Wänden alles andere als ideale Konzertbedingungen.
Dennoch war das Eröffnungskonzert wie in den vorangegangenen Jahren wieder ausverkauft. Ein schöner, wenn auch frischer Sommerabend erlaubte das Flanieren während der Pause nicht nur im überdachten Kreuzgang und ließ den Innenhof im Sonnenlicht glänzen.

Richard Wagners „Wesendonk“-Lieder haben einen durchaus delikaten Hintergrund. Nach der missglückten Revolution von 1848/49 musste Richard Wagner als steckbrieflich gesuchter Aufrührer aus Deutschland fliehen und fand in Zürich Unterschlupf bei dem wohlhabenden Kaufmann Wesendonk, der ihn großzügig unterstützte. Richard Wagner nahm die Hilfe gerne an und hatte nichts besseres zu tun, als sich umgehend in Wesendonks Gattin Mathilde zu verlieben. Inwieweit diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte, wird für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben, doch eins steht fest: gleichgültig war er der Angebeteten nicht.

Mathilde Wesendonk widmete sich nebenbei dem Schreiben von Gedichten und legte Wagner, der mittlerweile auf dem Grundstück der Wesendonks lebte, ihre poetischen Ergüsse zur Vertonung vor. Man braucht sich angesichts Wagners emotionaler Lage nicht zu wundern, dass er sich weniger auf die poetische Qualität der Gedichte als auf die Erfüllung ihres Wunsches konzentrierte. Die Gedichte handeln von Liebe, Leid, Herz, Schmerz und zeichnen sich durch ein Pathos aus, das man heute eher mit dem „K-Wort“ belegen würde. Doch in der Hochromantik hatten diese seelenvollen Töne Konjunktur, und außerdem war Wagner zu diesem Zeitpunkt mit dem Liebesdrama „Tristan und Isolde“ beschäftigt. Es passte also alles, und Wagner vertonte die fünf Lieder mit den vielsagenden Titeln „Der Engel“, „Stehe still“, „Im Treibhaus“, „Schmerzen“ und „Träume“.

Bratsche (l.) und Kontrabass (r.) freuen sich auf den Abend Die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter präsentierte die Lieder zusammen mit dem HR-Sinfonieorchester. Auffallend ist dabei die opernhafte Intonation. Das Orchester nimmt dabei eine gleichwertige, wenn nicht subtil dominierende Rolle ein, denn Wagner zog bei der Instrumentierung alle Register eines großen Orchesters. Das bedeutet nicht unbedingt, dass das Orchester die Solistin permanent übertönt, doch die klangliche Vielfalt und die typisch wagnerische Intensität der musikalischen Verarbeitung haben eine orchestrale Wirkung zur Folge, die eher in Richtung „musikalisches Gesamtkunstwerk“ als „Liedvortrag mit Begleitung“ geht. Wenn man so will, hat Wagner aus diesen fünf Liedern eine kleine Oper zusammengestellt. So lebt „Stehe still“ von expressiven, aufsteigenden Linien, die dann langsam in lyrische Intensität hinabsteigen. In dem Lied „Im Treibhaus“ beschwört das Orchester die schwüle, still verharrende Atmosphäre einer künstlichen Pflanzenwelt, in der kein Wind weht und kein Laut geht. Ähnlich geht es einem Menschen, der seine erotischen Gefühle nicht „im Freien“ ausleben kann, weil sie in einer Art geschlossenen Treibhauses gefangen sind. Die „Schmerzen“ beginnen mit einem emphatischen Einstieg – Bild der aufgehenden Sonne! – und enden mit einer weltumfassenden Geste – so recht nach Wagners und der Zeit Geschmack. In „Träume“ dagegen hält sich das Orchester eher zurück und lässt dem lyrischen Gesang den Vortritt. Fast erzählerisch wandern die Melodiebögen von einer Strophe zur nächsten und erzeugen eine somnambule, suggestive Wirkung.

Anne Sofie von Otter interpretierte die Texte mit einem warmen Timbre und schaffte es, ihnen durch eine feine interpretatorische Distanz viel von ihrem vordergründigen Pathos zu nehmen. Kräftiger Beifall entließ die Künstler und die Zuschauer in die frühe Pause.

Als Hauptwerk des Abends erklang Gustav Mahlers 6. Sinfonie in a-Moll, gemeinhin auch die „Tragische“ genannt, weil Mahler hier düstere Ahnungen künftigen Unglücks verarbeitet hat. Die Ironie wollte es jedoch, dass er zur Zeit der Komposition gerade eine glückliche Phase durchlebte. Die Ehe mit Alma war noch intakt und die beiden Kinder gesund. Später sollten sich dann seine Vorahnungen mit dem Tod einer Tochter, dem Scheitern der Ehe und seiner eigenen Krankheit bewahrheiten.

Manche Kritiker unterstellten Mahler eine erste Ahnung des Ersten Weltkriegs. Das mag zwar übertrieben sein, doch der damals in Europa herrschende imperiale Größenwahn, die gefühlte Bedrohung durch die rasant fortschreitende Technik und das irrationale Gefühl, an einer Zeitenwende zu stehen, förderten zweifellos apokalyptische Gedanken.

Solistin Anne Sofie von Otter, Dirigent Paavo Järvi und das HR-SinfonierorchesterMahlers 6. Sinfonie ist eine der wenigen rein instrumentalen Sinfonien. Insofern und auch in ihrer Viersätzigkeit trägt sie eher konservative Züge, was jedoch nicht mit unzeitgemäß oder gar nichtssagend zu verwechseln ist. Die „sechste“ ist wohl die persönlichste und emotionalste von Mahlers Sinfonien und erlaubt einen tiefen Blick in sein Seelenleben. Sie zeigt die Hypersensibilität eines hochbegabten Künstlers, der die gesellschaftlichen Schwingungen seiner Zeit wahrnahm, sie aber nicht deuten konnten und gerade deshalb unter ihnen litt. Wer seinem Unbehagen keinen Namen geben kann, gerät außer Balance und verfällt im schlimmsten Fall in Angstzustände und Panik.

Der erste Satz ist fast durchgängig von einem stampfenden, bedrohlichen Rhythmus durchzogen, der jedoch immer wieder von plötzlichen Verlangsamungen bis hin zum Stillstand unterbrochen wird. In diesen Momenten hört man Kuhglocken läuten, die an unbeschwerte Zeiten in Österreichs Natur erinnern. Kurze lyrische Einschübe der Holzbläser verweisen auf die Glücksgefühle des jungen Ehemannes und Vaters Mahler, werden jedoch sofort wieder von dem drohenden Marschrhythmus vertrieben. Natürlich bieten sich hier Assoziationen auf den kommenden Krieg an, vor allem retrospektiv. Besonders das fast manisch gesteigerte Stampfen am Schluss und das plötzliche Ende des Satzes lassen das Bild einer untergehenden Welt entstehen.

Der zweite Satz, ein Scherzo, schließt nahtlos an den ersten an. Auch hier dominiert das Wuchtige – so lautet auch die Spielanweisung – und Drohende. Doch kommen hier auch andere Themen zum Tragen, so ein tänzerisches Trio, dass jedoch wieder durch einen Tutti-Ausbruch zerstört wird. Mahler erlaubt keinem alternativen, positiven Motiv eine längere Verweildauer. Immer wieder drängen sich die drohenden Motive hinein und lassen eine latent unsichere und gespannte Atmosphäre entstehen. Dabei baut Mahler ein eng verwobenes Zusammenspiel der unterschiedlichen Instrumentengruppen auf, die mit ihren je eigenen Klangfarben die unterschiedlichsten Stimmungen erzeugen.

Erst im dritten Satz kommt die Sinfonie zur Ruhe. Hier verarbeitet Mahler offensichtlich seine Liebe zu seiner Frau Alma und seine Sehnsucht nach einem friedvollen, glücklichen Leben. Die weichen Holzbläser spielen dabei eine tragende Rolle, und die Streicher steigern den lyrischen Grundton zu hoher Intensität. Doch auch hier deuten dramatische Tremoli und expressive Passagen den Zweifel und die Ängste vor dem Unglück an. Selbst in seinen lyrischsten Momenten ist Mahler vor den Geistern der Vorahnung nicht gefeit.

v.l.n.r.: Michael Herrman, Paavo Järvi und Dr. Reitze bei Järvis EhrungDer letzte Satz stellt dann alles in den Schatten, sowohl hinsichtlich der Länge als auch der Tonalität und der musikalischen Ausdruckskraft. Eine geschlagene halbe Stunde lang kämpft der Komponist mit den Vorahnungen von Lebenskatastrophen und zieht dabei alle Register des großen Orchestersatzes. In ihm muss es dermaßen gebrodelt haben, dass nur noch der musikalische Aufschrei ihm Erleichterung verschaffte. Denn nichts anderes als ein Aufschrei stellt dieser Finalsatz dar. In immer neuen Wellen steigert sich die Partitur zu geradezu wahnwitziger Lautstärke unter dem Einsatz aller Instrumente, und drei Mal tritt sogar ein großer „echter“ Holzhammer in Aktion, der die „Hammerschläge“ des Schicksals auslöst. Wer will, kann das als Parallele zu Beethovens Eingangsmotiv in der 5. Sinfonie sehen, nur dass die Schicksalsschläge hier erst im letzten Satz eintreten. Tatsächlich werden Mahler nur wenige Jahre später die bereits erwähnten drei Schläge – letztlich tödlich – treffen. Esoterisch veranlagte Hörer mögen in dieser musikalischen Vorahnung eine Vorhersage des Schicksals sehen, eher nüchterne Zeitgenossen die dunklen Ängste eines hoch sensiblen Künstlers. Mit zunehmender Dauer des Satzes gerät auch die Tonalität ins Wanken – besonders nach den „Hammerschlägen – und entgleitet in heftige Dissonanzen. Alle Instrumentengruppen schwingen sich zu einem kaum noch zu übertreffenden Crescendo auf, das sich wie ein Sinnbild der hereinbrechenden Katastrophe durch den Schlussteil des Satzes zieht. Plötzliche Verzögerungen, fast bis zum musikalischen Stillstand gehend, steigern die Spannung noch und münden dann in einen „Hammerschlag“. Am Ende hat sich die Musik erschöpft, die Katastrophe hat alle Ordnung zerstört, und der Satz verklingt nach einem resignierenden Kontrabass-Motiv einem letzten Aufschrei des Orchesters.

Das HR-Sinfonieorchester vollbrachte an diesem Abend eine Höchstleistung. Das bezieht sich nicht nur auf die Schwerarbeit der expressiven Intonation und der damit zusammenhängenden Lautstärke. Vor allem ist die Transparenz der Interpretation hervorzuheben. Selbst in den chaotischsten Augenblicken ließ Paavo Järvi die Musik nie zum regellosen Lärmen verkommen, sondern präsentierte das musikalische Chaos als kontrollierte Darbietung. Jede Stimmgruppe blieb exakt und in sich geschlossen, die Einsätze kamen präzise, und keinen Augenblick kam das Gefühl auf, das die komponierte musikalische Katastrophe sich auf die Aufführung übertrug. Wie in einem guten Schauspiel die Darsteller menschliche Leidenschaften glaubwürdig bis zum Exzess wiedergeben, ohne die Selbstkontrolle zu verlieren, steigerte sich das Orchester zwar in einen wahren Spielrausch, behielt aber dennoch zu jeder Zeit die Kontrolle über die eigene Interpretation. Das war am besten in den Momenten zu verspüren, wenn in das Chaos plötzlich der Hoffnungsschimmer eines lyrischen Moments eindrang. Urplötzlich änderte sich dann die Gefühlslage, um wenige Takte danach wieder umzukippen.

Das Publikum verharrte nach dem Schlussakkord fast eine halbe Minute in totaler Stille, bis die nachlassende Spannung im Körper des Dirigenten den Raum freigab zum Beifall. Dieser setzte dann erst langsam und fast wie aus einer Starre heraus ein, um sich dann zu stehenden Ovationen zu entwickeln. Den Zuhörern wurde langsam bewusst, dass sie hier eine Sternstunde der Musik erlebt hatten. Paavo Järvi selbst zeigte bei der Entgegennahme des Beifalls deutliche Spuren der Anstrengung nach dieser Parforce-Tour durch eines der herausforderndsten Stücke der Musikliteratur.

Bei dem anschließenden Empfang für den scheidenden Paavo Järvi konnte dieser seine Rührung angesichts der Ehrungen durch Festival-Leiter Michael Herrmann, HR-Chef Dr. Helmut Reize und verschiedene Vertreter des Orchesters nicht unterdrücken und versprach, Deutschland und den Rheingau so bald wie möglich wieder zu besuchen.

Frank Raudszus
 

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