Das Ballett des Staatstheaters Mainz zeigt Sergej Prokofjews „Cinderella“

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Mariya Bushuyeva la Cinderella
Kleinbürgerliche Enge gegen aristokratische Weite  

Das Ballett des Staatstheaters Mainz zeigt Sergej Prokofjews „Cinderella“
Jedes Kind – so ihm noch Märchen vorgelesen oder erzählt werden – kennt die Geschichte vom Aschenputtel. Sie bringt die leidvolle Erfahrung vieler Kinder zum Ausdruck, die schon früh die Mutter – am Kindbettfieber – oder gar beide Elternteile verloren hatten und damit der schützenden elterlichen Hülle beraubt waren. Das Klischee von der „bösen Stiefmutter“ dürfte seit je nicht nur auf einem subjektiven, aus frühen Verletzungen gespeisten Empfinden sondern auf handfesten Fakten beruhen. Schließlich denkt jede Mutter – und sie war und ist schließlich die wesentliche Bezugsperson – zuerst an die eigene Brut. In diesem Märchen kommt aber auch eine zweite Sehnsucht zum Ausdruck, und zwar die nach dem guten, weisen Herrscher. Trotz anderweitiger Erfahrungen mit der Wirklichkeit haben Generationen immer wieder auf den weisen Herrscher gehofft, übrigens die Philosophen auch. Eine von Not, Elend, Neid und Missgunst in der unmittelbaren Umwelt geprägte Welt braucht wohl diese Visionen – oder besser Illusionen -, um überleben zu können. Die stoische Einsicht des Existenzialisten, der die Welt als notwendig schlechteste aller möglichen hinnimmt, ist den meisten Menschen nicht zuzumuten. Wer sonst kann schließlich den entrechteten Menschen im Diesseits erlösen, wenn nicht der Mächtige.

Anne Jung (Stiefschwester) und Christian Bauch (Stiefmutter)Und so erzählt auch „Aschenputtel“ – im englischen Sprachraum „Cinderella“ genannt – die Geschichte vom armen Waisenmädchen, das von Stiefmutter und -schwestern ausgegrenzt, verspottet und unterdrückt wird, aber am Schluss triumphiert. Zum Ball des Prinzen tritt zwar nur die Stiefmutter mit ihren beiden Töchtern in der Hoffnung auf einen prinzlichen Schwiegersohn auf, doch Cinderella erfährt Hilfe durch die Geister ihrer Eltern, wird herausgeputzt, lernt tanzen und erscheint als strahlende Schönheit auf dem Ball. Doch um Mitternacht erlischt der Zauber, und der – natürlich – über beide Ohren in sie verliebte Prinzip sieht ihre wahre, bedauernswerte Gestalt. Doch als edler Prinz – siehe oben! – achtet er nicht auf die soziale Stellung sondern nur auf die inneren Werte der jungen Frau und sucht sie. Im Hause der Stiefmutter muss er zwar erst deren Ablenkungsversuche überwinden, findet dann aber die geliebte Cinderella und überlässt Stiefmutter und -schwestern ihrem Neid und ihrer Missgunst.
Pascal Touzeau hat am Staatstheater Mainz die zeitlosen Topoi der Missgunst und des Neides sowie der wahren, vom sozialen Kontext unabhängigen Liebe in einer ganz eigenen Choreographie tänzerisch und körperlich neu gestaltet. Dazu wählte er im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz eine Rundumbestuhlung, die den klassischen Bühnenraum nahtlos in den Zuschauerraum integriert. Das Publikum sitzt auf allen vier Seiten der mittigen Bühne, was für die Tanztruppe die Herausforderung mit sich bringt, nach mehreren Seiten zu tanzen. Die frontale Vorführung wird aufgelöst in eine „Rundum-Erzählung“, die zwar schwieriger zu realisieren aber dafür lebensechter wirkt. Im „echten“ Leben agieren wir schließlich auch nicht nur frontal zu EINEM Publikum.
In einer Art Prolog lässt er Cinderellas Eltern auftreten und dann im Halbdunkel des suggerierten Todes verschwinden; dann tritt das „Trio infernale“ aus Stiefmutter und den beiden Stiefschwestern auf. Die Rolle der Stiefmutter tanzt Christian Bauch, ein großgewachsener Tänzer, der bereits durch seine Größe Dominanz ausstrahlt. Und diese Dominanz zeigt sich bis zum Schluss in allen Facetten. Wie eine kampfbereite Glucke oder ein Krake wacht die Mutter über ihre beiden Töchter, lässt sie keinen Augenblick aus den Augen und dirigiert sie durch das Haus und das Leben wie Marionetten. Die beiden Töchter (Anne Jung und Keiko Okawa) fügen sich diesem schonungslosen Regiment ohne Protest, da sie wahrscheinlich von frühester Kindheit nichts anderes kennen. So werfen sie auch später dem Prinzen mit marionettenhafter Akkuratesse schöne Augen zu, ohne dabei erotische Gefühle auszudrücken.

EnsembleTouzeau verengt in diesem Akt die Bühne durch verschiebbare Glaswände, mit denen er das Kleinbürgerliche und die geistige Enge der Familie darstellt. Das hat jedoch den Nachteil, dass sich die Tanzfiguren auf der jeweils anderen Bühnenseite – zwischen beiden Enden liegen gut zwanzig Meter – kaum noch verfolgen lassen. Die beiden Enden des Zuschauerraumes müssen daher mit einem eingeschränkten Eindruck leben. Dieses Manko gleicht Touzeau dadurch aus, dass er die im Grunde genommen schlichten familiären Szenen ausgiebig variieren lässt. Das „Stief-Trio“ verrenkt sich nach allen Regeln der Kunst, wobei Christian Bauch den Ehrgeiz und die Strenge der Mutter durch verkniffen-böse Mimik – nahe an der Knallcharge! – und stakkatohafte Bewegungen unterstreicht, während sich die beiden Mädchen buchstäblich um ihn – alias ihre Mutter – herumwinden. In diesem Akt steht Cinderella – getanzt von Mariya Bushuyeva – im dünnen Kleidchen staunend und ausgegrenzt daneben, erbringt kleine Dienstleistungen und darf nur zuschauen, wie sich ihre Stiefschwestern für den großen Ball des Prinzen vorbereiten. Erst am Schluss dieses Aktes nahen noch einmal die Geister ihrer Eltern und schmücken sie mit Hilfe einer großen Schar von dunkel gekleideten, maskierten Unterweltgeistern für den Ball.
Für den zweiten Akt sind die Glaswände verschwunden, und es eröffnet sich ein großes, freies Feld mit blutrotem Boden, dessen Farbe sowohl das Blut (im Schuh) als auch das Herzblut und die Liebe symbolisieren mag. Touzeau lässt zu Beginn eine schwarz gekleidete Truppe von Tänzern mit Röckchen und hochhackigen Schuhen einmarschieren. Jeder trägt einen männlichen Torso – Schaufensterpuppe – vor sich her, mit dem er erst einen angedeuteten Tanz ähnlich den Menuetten im Rokokko vorführt und den er dann an der Bühnenseite abstellt. Die Tänzer stellen offensichtlich die Frauen bei einem Ball dar – in der Literatur stets die Hauptpersonen – und die Puppen die austauschbaren Männer. Mit diesem Auftritt karikiert Touzeau das Geschlechterverhältnis, doch abgesehen davon, dass es recht originell aussieht, sollte man nicht zuviel hineininterpretieren, denn das gibt die Handlung nicht her. Im Übrigen wirken die am Bühnenrand abgestellten Puppen eher störend, da sie den dahinter Sitzenden die Sicht auf die Tänzer nehmen.

Als Cinderella tritt am Ende des ersten und im zweiten Akt Shelby Williams auf, im eleganten Dress mit hochgesteckten Haaren. Touzeau hat sich für die Doppelbesetzung entschieden, da die – zauberhafte – Verwandlung vom mausgrauen Aschenputtel zur strahlenden Cinderella Ende des ersten Aktes plötzlich erfolgen muss, was eine Umkostümierung verbietet. Folgerichtig füllt Shelby Williams diese Rolle auch im zweiten Akt aus, bis um Mitternacht plötzlich die arme Cinderella (Mariya Bushuyeva) wieder auftritt. Für den Ball kann Touzeau alle Register ziehen, vor allem, da ihm Prokofjew dafür eine Reihe sehr origineller und wirkungsvoller Musikstücke an die Hand gibt. Auch hier feiert wieder das Trio aus Stiefmutter und -schwestern tänzerische Triumphe, denn die drei versuchen jetzt mit aller Macht, die Aufmerksamkeit des Prinzen (Jesus Pastor) für sich zu gewinnen. Da umgarnen sie ihn, hängen sich an ihn und nehmen ihn geradezu in die Zange, so dass er sich ihnen kaum entziehen kann, und die Stiefmutter lenkt das Ganze wie eine eigene Choreographie in der Choreographie. Dem beim ersten Anblick Cinderellas in sie verliebten Prinzen gelingt es nur mit List und der Hilfe seiner schwarzen Garde, sich Cinderella zu nähern und sie nicht zu verlieren. Dieser Teil ist voller Witz und abgründiger Menschenkenntnis, wenn er die kompromisslosen Eroberungstaktiken der Mutter und ihrer beiden Töchter entlarvt.
Der letzte Akt spielt dann wieder im Hause der Familie, wo Mariya Busuyeva als armes Aschenputtel im offenen Haar und „härenen Gewand“ auftritt, während ihre Stiefmutter und die Stiefschwestern den plötzlich und unvermutet auftretenden Prinzen umgarnen. Dazu müssen sie aber erst ein menschliches Tief überwinden, denn Touzeau lässt das Trio volltrunken vom Wein und vom vermeintlichen Glück des Abends – sie haben Cinderella nicht erkannt – nach Hause kommen. Und als der Prinz erscheint, liegen sie noch schwer verkatert und lallend auf Tisch und Boden. Diese Szene bietet natürlich sowohl den Tänzern Gelegenheit zum Slapstick als auch den Zuschauern zum Lachen.  Wie üblich, ist dann das „Happy End“ schnell erzählt und nicht mehr so spannend. Der Prinz ignoriert die drei „Zicken“ und schließt die strahlende Cinderella in die Arme. Das Licht erlischt.
Touzeau hat mit seiner Choreographie, seinen Regieeinfällen und seiner Bühnenaufteilung dem alten Aschenputtel-Märchen neues Leben eingehaucht, wobei der Humor nicht zu kurz kommt. Es ist ja erstaunlich und eine eigene Untersuchung wert, dass diese klassischen „Kernmärchen“ keinen Humor kennen, sei es nun „Aschenputtel“, „Hänsel und Gretel“ oder „Schneewittchen“. Hier werden offensichtlich zu tief gehende Menschheitstraumata verhandelt, als dass man bei ihrer Weitergabe noch Witz hätte einfließen lassen können. Doch Prokofjews Musik bringt diesen Witz hinein, indem er in jedem der fünfzig kurzen Musikstücke die jeweilige Situation oder den Charakter der Personen bis hin zur Karikatur plastisch darstellt. Schrille Töne und plumpe Rhythmen gehören ebenso dazu wie schwungvolle Walzer oder feine lyrische Passagen, je nachdem, was die Handlung erfordert. Touzeau achtet genau auf diese Musik und lässt seine Tänzer ihrem Rhythmus und ihrem Duktus folgen, und seine Tanztruppe tut dies mit viel Gespür und großem Erfolg.

                                                                                 
Frank Raudszus

Alle Fotos © Martina Pipprich
 

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