Lars Eidinger inszeniert “Romeo und Julia” an der Berliner Schaubühne konsequent als deftiges Volksstück

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Der Kampf der Bediensteten von Montague und Capulet
Shakespeare als Trash-Theater  

Lars Eidinger inszeniert “Romeo und Julia” an der Berliner Schaubühne konsequent als deftiges Volksstück
So kann man ein Shakespeare-Stück nur in Berlin inszenieren. An jedem mittelgroßen Staats- oder Stadttheater hätte diese Inszenierung einen Proteststurm des doch meist reiferen Abonnementpublikums zur Folge, der noch lange im Pressewald nachrauschen würde. Doch in Berlin ist die Theaterkonkurrenz groß, und Intendanten wie Regisseure müssen sich schon etwas überlegen, um die Zuschauer, vor allem die jüngeren, ins Theater zu locken.

Man ahnt schon vor Beginn, dass es hier anders zugehen wird, denn das Publikum ist – aus dem Blickwinkel eines “westdeutschen” Theatergängers – erstaunlich jung. Hier tummeln sich viele Besucher, die man zu Hause eher im Cinemaxx vermuten würde.

Der Kampf der Bediensteten von Montague und Capulet

Bereits das Bühnenbild setzt Zeichen, besteht es doch aus einem Theater mit Garderoben und Bühne. Letztere ist mitten auf der Bühne als Guckkasten mit Vorhang aufgebaut, links davon sieht man hinter einem glitzernden Varieté-Portal die Garderobe, und rechts öffnet sich die zweite Garderobe mit einem Beleuchtungspult. Man schaut sozusagen auf eine kleine Wanderbühne, die sich mit ihren eingeschränkten Mitteln und einer gewissen Naivität in der Stadthalle einer Kommune eingerichtet hat.

Wer den Film “Shakespeare in Love” gesehen hat, weiß, dass Theater zu Shakespeares Zeiten eine eher anrüchige Branche war, die vor allem der Unterhaltung des einfachen Volkes diente. Da ging es deftig, gerne auch zotig zu, denn “Sex and Crime” hat schon immer gezogen. Und die Fiktion brachte man mit einfachsten Mitteln auf die Bühne, denn das Publikum wollte vor allem etwas zum Lachen haben und interessierten sich weniger für die Entführung in fiktive Welten. Da die Zuschauer wenig Geld hatten, musste man sich mit den sparsamsten Requisiten begnügen und den Rest der Phantasie der Besucher und dem Talent der Darsteller überlassen.

Das EnsembleNachdem bereits in Darmstadt “Romeo und Julia” als halbes Punkerstück gelaufen war und Manfred Beilharz in Wiesbaden “Othello”  als schnoddrige Intrige mit deftigem Vokabular inszeniert hatte, hat Lars Eidinger zusammen mit Nicole Timm (Bühne und Kostüme) dieser neuen Shakespeare-Sicht die – vorläufige – Krone aufgesetzt. Schon der Prolog zeigt die Richtung an, denn hier tragen Regine Zimmermann als Lady Capulet und Kay Bartholomäus Schulze als Montague den Text sozusagen als in einem gemeinsamen Anzug steckende “siamesische Zwillinge” vor, die nicht voneinander lassen können.

Die Guckkastenbühne enthält außer seitlichen Sichtblenden keine festen Requisiten. In der ersten Szene, wenn sich die Bediensteten der verfeindeten Häuser Montague und Capulet prügeln, markieren nachlässig bemalte und aufeinander gestapelte  Kartons die Stadt Verona. Der Einfachheit halber lässt Eidinger Mercutio (Tilman Strauß) und Benvolio (Bernardo Arias Porras) als Bedienstete des Hauses Montague auftreten. Und diese Italiener reden denn auch so, wie man heute in “Comedys” die Italiener gerne Deutsch reden lässt, etwa mit dem End-”e” an jedem Substantiv. Wer Shakespeares Bildungskanon im Kopf hat, fühlt sich irritiert, doch schnell wird klar, dass der Autor es vor über vierhundert Jahren wohl so direkt gemeint hat und seine Darsteller so ähnlich dargestellt haben. Und so wie sich vielleicht damals die englischen Zuschauer über diese “Fatzkes” amüsiert haben mögen, lacht auch hier das vornehmlich junge Publikum, statt sich über diesen Prekariatston  aufzuregen.

So geht es denn auch weiter. Die Prügelei zwischen den beiden Lagern artet in eine wahre Blutorgie aus, bei der sich alle Beteiligten im vermeintlichen Kampf auf dem Boden wälzen und sich literweise Kunstblut über Köpfe und Kleider schütten. Dazu spielt vor dem linken Portal die Band “The Echo Vamper”, bestehend aus einem Gitarristen und einer heißen blonden Sängerin, aggressive Popmusik mit überirdischer Verstärkung, Schon hier ist für manchen älteren Theatergänger mit Shakespeare-Verehrung eine erste Grenze erreicht.

Romeo selbst, gespielt von Moritz Gottwald, erscheint als geistesabwesender Jüngling im Roten Strumpfanzug mit weißer Halskrause. Letztere ziert mehrere der Darsteller und verweist auf die einfachen Mittel, mit der das damalige Volkstheater historisches Kolorit in die Aufführungen brachte. Der Fürst von Verona wiederum, der nach der blutigen Prügelei ein Machtwort spricht, wird hier von einem kleinen Mädchen (Maria Matschke) mit goldener Pappkrone gespielt. Auch dies wohl ein bewusster Verweis auf früherer Zeiten, als man Nebenrollen mit wenig Text ungeachtet des Realitätsgehalts aus Personalmangel von Kindern oder Alten spielen ließ. Gesellschaftspolitisches Kalkül sollte man hinter dieser Besetzung nicht suchen.

Iris Becher (Julia) und Moritz Gottwald(Romeo) am EndeLady Capulet ist bei Eidinger eine verrückte Megäre in Strumpfhosen, die bei jeder Kleinigkeit zu schreien anfängt. Regine Zimmermann tritt in dieser Rolle bewusst als “Knallcharge” auf, denn sie spielt hier im Grunde genommen – wie alle anderen auch – zwei Rollen: die der Lady Capulet und die der Schauspielerin des Wandertheaters, die Lady Capulet spielt. Man kann sich vorstellen, dass die Zuschauer im elisabethanischen England hinter dieser Figur ihre eigenen Schwiegermütter sahen und sich köstlich amüsierten.

Eine weitere Kernfigur in dieser Inszenierung ist Sebastian Schwarz. Er spielt einmal die Nebenrolle des reichen Paris, den  die Lady als Mann für ihre Tochter Julia ausgewählt hat, dann aber auch in einer “Rock-Rolle” die Amme, was natürlich zu vielen Slapstick-Effekten führt, die ein bis zwei Mal an die Grenze des Erträglichen gehen. Auch Schwarz spielt natürlich den Schauspieler, der sich in dieser Frauenrolle auslebt und kein Klischee des “Mannes in Frauenkleidern” auslässt. Das fängt mit der gezierten Stimme an und hört mit den gestelzten Handbewegungen noch lange nicht auf. Wenn dann aber plötzlich die tragischen Momente dieses Stücks aufblitzen, kann Schwarz in ein scheinbar komisches Entsetzen und Sprachlosigkeit verfallen, und sein Gesicht drückt überzeugend die Verletzbarkeit dieser treuen Frau aus. Wenn dann allerdings Julia (Iris Becher) im Scheintod daliegt, herzt und küsst Schwarz die blasse Scheinleiche wie ein Schauspieler, der endlich einmal die Möglichkeit nutzen kann, eine Kollegin ungestraft abzuknutschen.

Tilman Strauß und Bernardo Arias Porras wiederum schöpfen die Möglichkeiten, die ihnen die Rollen von Mercutio und Benvolio geben, nach allen Regeln der Kunst aus. Schon Shakespeare legt diese beiden Gefährten Romeos als rauf- und sauflustige Kumpane an, und die beiden Darsteller denken bei ihrem Spiel daran, wie wohl die Schauspieler in Shakespeares Truppe diese Rollen gespielt haben mögen, um das Publikum richtig in Fahrt zu bringen. Da reichen dann originelle Kostüme aus Müllsäcken nicht mehr, und auch nicht zotige Sprüche in der freien aber adäquaten Übersetzung von Thomas Brasch. Da wird es dann auch handgreiflich bis hin zu Entblößungen und direkten sexuellen Anspielungen. Vor allem Tilman Strauß lässt buchstäblich die “Sau raus”. Doch wenn er dann von Thybalts Hand stirbt, fällt er plötzlich und unerwartet ins deklamatorische Fach. Vor dem Vorhang stirbt er mit einem langem Monolog mit rollenden “Rs” und markigen Heldensprüchen. So mag sich mancher Schauspieler zu Shakespeares Zeit in den Bühnentod und die Herzen der Zuschauer gespielt haben.

Julia wiederum kommt als verstockte Vierzehnjährige auf die Bühne, das Gesicht hinter den Haaren versteckt, und wirkt als einzige von allen von Anfang an vernünftig. Den berühmten Balkondialog mit Romeo gestaltet sie souverän aus dem Fenster des mit einer einfachen Holzwand stilisierten Capulet-Hauses (einschließlich perspektivisch gezeichnetem Balkon), während Romeo sich unten durch die gesamte Popmusik der letzten vierzig Jahre zum Thema “Liebe” singt. Viele “Aha”-Reaktionen aus dem Publikum.

Auch der Mönch Laurence, gespielt ebenfalls von Kay Bartholomäus Schulze, fällt nicht aus der Groteskenrolle, die diese Inszenierung prägt. Mit Totenkopfmaske – Sinnbild der Vergänglichkeit – und tiefen Ringen unter den Augen beschwört er das Unglück in einer Art klerikalen Zynismus´ herauf. Dieser Priester verzweifelt an der Schlechtigkeit der Welt und hat Gott längst aufgegeben. Und doch bereitet es ihm eine diebische Freude, dem liebenden Paar gegen ihre starrköpfigen Eltern zu helfen. Umso tragischer, dass es am Ende doch schiefgeht. Wenn er das Fläschchen mit dem Schlaftrunk herbeibringt, ist es gleich ein Zehnliter-Benzinkanister, auf dem auch passenderweise ein Totenkopf prangt. Auch Schulze spielt hier den Darsteller, der seine Rolle gerne zur Knallcharge hochpeitscht.

Es ist erstaunlich und sogar bewegend, wie die Truppe dann am Ende der Aufführung noch die Kurve zum wirklich Berührenden schafft. Plötzlich  – in der “Nachtigall-Lerche”-Szene – wird der sonst stets sarkastisch-spöttische Romeo schweigsam und ernsthaft, und am Ende bringt er einen bewegenden Abschlussdialog, der nichts Theatralisches oder Groteskes mehr an sich hat. Julia erwacht, sieht den toten Romeo und trinkt Gift. So schnell geht dieser Tod. Dafür treten dann alle noch einmal auf und tragen den Epilog vor. Romeo und Julia stehen wieder von den Toten auf, und Romeo entzündet den Titel des Stücks als Wandfeuerwerk über der Bühne. Es war doch alles nur Theater!.

Wenn er auch in einigen Szenen die Groteske auf die Spitze und darüber hinaus treibt, gelingt es Lars Eidinger doch, gleichzeitig Shakespeares Stück und der Schauspielzunft ein Denkmal zu setzen. Es ist weniger ein Stück über die tödliche Liebe als eins über das Theater und seine Art, mit diesem Stoff umzugehen. In seiner Konsequenz muss Eidinger allerdings hinnehmen, dass einige Zuschauer die Aufführung schon zur Hälfte oder gar früher verlassen. Die anderen belohnen ihn dafür jedoch mit besonders kräftigem Beifall.

Frank Raudszus

Alle Fotos©Arno Declair

 

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