Das Staatstheater Darmstadt präsentiert die Uraufführung von Xavier Naidoos Musical „Timm Thaler“

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Elisabeth Sikora (Lilith|Saskia), Michèle Fichtner (Marie), Franz Nagler (Baron), Timo Verse (Timm Thaler), Karl Grunewald (Felix Thaler), Opernchor, Statisterie
Musik im Blut ist ein ganz besondrer Saft  

Das Staatstheater Darmstadt präsentiert die Uraufführung von Xavier Naidoos Musical „Timm Thaler“
Wir kennen Opern mit denkbar schlichtem Libretto, die dennoch – oder gerade deswegen? – überaus großen Erfolg errungen haben. Was der Oper billig ist, kann dem Musical nur recht sein. Dabei ist die Geschichte, die „Timm Thaler“ erzählt, zwar märchenhaft schlicht, die Autoren – James Krüss als Erfinder der Geschichte sowie Xavier Naidoo (Musik) und Markus Heitz (Liedtexte) – waren jedoch schlau genug, stille Anleihen bei dem einzigen Vorbild zu tätigen, das über alle Zweifel erhaben ist: dem Frankfurter Mundartdichter, der 1749 zur Welt kam und 1832 im fernen Weimar verstarb. Von ihm übernahmen sie die Grundidee der hier zum Musikdrama mit glücklichem Ausgang gewandelten Tragödie.

Elisabeth Sikora (Lilith|Saskia), Michèle Fichtner (Marie), Franz Nagler (Baron), Timo Verse (Timm Thaler), Karl Grunewald (Felix Thaler), Opernchor, Statisterie
Der halbwüchsige Timm Thaler bezaubert seine Umgebung mit seinem aus tiefster Seele kommenden, befreienden Lachen. Der Teufel jedoch, der kein Lachen kennt und auf Erden als unerkannter Despot namens „Baron Lefuet“ weilt, neidet ihm dieses Lachen und führt ihn über seinen Vater in seinen eigenen Spielsalon. Anfänglich zugestandene Gewinne sollen Timm anfüttern, und nachdem dies erfolgreich geschehen ist, lässt der Baron den Vater bei einem Unfall sterben und Timm sowie dessen schwangere Stiefmutter mittellos zurück. Nach einem bewusst herbeigeführten Spielverlust bietet der Baron dem ob der familiären Situation verzweifelten Timm einen Handel an: er wird nie mehr eine Wette verlieren, muss aber dafür sein Lachen an den Baron übereignen. Timm unterschreibt den fatalen Vertrag, wobei ein Zitat aus der historischen Vorlage fällt: als Timm nach der Bedeutung der roten Tinte fragt, antwortet der Baron mit dem scheinbar kryptischen Satz „Das ist ein ganz besondrer Saft“.  Timm schaut von Stund´ an trotz hoher Spielgewinne trüb in die Welt, und seine Freundin Marie (nicht Gretchen!), die ihn heimlich liebt, bangt um ihn und möchte ihm sein Lachen zurückgewinnen.
Den Baron begleitet auf Schritt und Tritt eine weibliche Gestalt, Lilith mit Namen, die man guten Gewissens als Hexe bezeichnen kann. Nicht nur ist sie wie eine solche gekleidet – enge rote Hosen, ein wehender schwarzer Umhang, ein Hut mit Feder und eine schwarze Brille – , sie agiert auch so. Mit stechend-suggestiver Stimme und reptilienartigen Bewegungen umkreist sie ihren Chef und dessen Opfer und organisiert alle Konstellationen, die Timm auf ewig in die Arme des Barons treiben sollen. Auch sie liebte einst – als sie noch Saskia hieß – einen jungen Mann namens Alexander, der ihr nun folgt und ihre Wandlung zur schlangenhaften Hexe nicht versteht. Marie und Alexander tun sich zusammen, um sowohl Saskia als auch den lachlosen Timm aus den Fängen des Barons zu befreien.
Wie schon aus dem besagten Volksstück des Frankfurter Dichters zu entnehmen ist, zeigt auch der Teufel deutliche Anzeichen der Eitelkeit, und so verrät der Baron in einem Anfall von herablassender Jovialität seinem neuen Gefolgsmann Timm einen wichtigen Zauberspruch. Dabei erfährt Timm nebenbei, dass Saskia mit eben diesem Zauberspruch verhext wurde. Timm selber ist durch seinen Handel an das Spielcasino des Barons und damit an diesen gebunden. Das viele Geld, dass er jetzt gewinnt, macht jedoch nur seine gierige Stiefmutter glücklich, sein verlorenes Lachen lässt ihn jedoch in grauer Trauer zurück. Heimlich trifft er sich mit Marie und Alexander, und dabei hecken sie Pläne aus, wie sie Baron Lefuet, dessen Namen man nur rückwärts zu lesen braucht, um seinen Charakter zu erkennen, austricksen können. Dabei fällt Timm vor allem die seltsame und äußerst brisante Zusage von Lefuet auf, dass er JEDE Wette gewinnen wird. Nun braucht man nur eine Wette zu finden, die Lefuet mit einen Widerspruch Gödelschen Ausmaßes konfrontiert. Natürlich wollen wir hier die Geschichte nicht in allen Einzelheiten verraten, denn ein gewisses Maß an Spannung soll ja bleiben. Auf jeden Fall geht es für die „Guten“ gut und für die „Bösen“ böse aus. Wie das aber geschieht, sollte sich jeder selbst anschauen. 

Franz Nagler (Baron), Timo Verse (Timm Thaler), Michèle Fichtner (Marie), Elisabeth Sikora (Lilith|Saskia)Christoph Weyers hat ein Bühnenbild gezimmert, das an einen Stabilbaukasten aus der eigenen frühen Jugend erinnert. Alle baulichen Elemente sind aus imitierten Metallteilen in unterschiedlichen Farben und mit regelmäßigen Perforationen zusammengebaut. Am Anfang entsteht daraus ein großes Spielcasino mit allen möglichen Spielautomaten, den Bühnenhintergrund ziert eine überdimensionale Roulett-Auflage, und über der Bühne hängt eine ebenso plakative Roulette-Trommel. Karten- und Würfeltische komplettieren die Möblierung, und der Chor des Staatstheater spielt hier mit viel Spielfreude eine enthemmte Zockergesellschaft. Wohltuenderweise hat sich Regisseur Stanislav Mośa einen Verweis auf die Zockerbanken der Finanzkrise verkniffen, denn hier geht es nicht um Zeit- und Gesellschaftskritik sondern um ein Märchen für junge Leute – und für Junggebliebene. Auch die Kostüme – von Lilith einmal abgesehen – spiegeln eher den bürgerlichen Durchschnitt wider und tragen kein Revoluzzertum zur Schau.
Die Musik kommt von einer kleinen Live-Band im Orchestergraben und hält sich wohltuend zurück, so dass die Darsteller auf der Bühne sich stimmlich frei entfalten können. Zwar tragen sie sowieso alle Mikrofone am Kopf, aber harte Klänge aus dem Ochestergraben könnten dennoch das akustische Bild stören. Xavier Naidoo kam es offensichtlich nicht nur auf die instrumentale Wirkung der Musik sondern vor allem auf die Verständlichkeit der Liedtexte an. Diese Texte sind denn auch einige Anmerkungen wert. Anfangs irritieren die sprachlichen Brüche, wenn auch griffige Reime wie „Was die Ohnmacht, aus deinem Sohn macht“ sofort im Kopf hängenbleiben. Die gefühlsgeladenen Lieder über Liebe, Lachen und Leiden sind oft mit Worten aus dem banalen Alltagsgebrauch aufgeladen, die den emotionalen Kontext zu konterkarieren scheinen. Das klingt dann bisweilen aufgesetzt salopp oder gar schnoddrig. Doch mit zunehmender Gewöhnung an diese Sprachbrüche erkennt man die – bewusst kalkulierte? – Wirkung dieser Vermischung der semantsichen Ebenen. Die oft dicht an der Rührseligkeit angesiedelten Themen der Songs werden durch die Wortwahl ins Reale, Alltägliche zurückgeholt und gewinnen dadurch an Bodenständigkeit. Am Ende hat man sich dann an diese Textmischungen gewöhnt und erkennt darin sogar eine erfrischende Originalität.
Die musikalsichen Linien orientieren sich an den üblichen Musicalstandards. Es wäre einmal eine Untersuchung wert herauszufinden, warum sich (fast) alle Musicals in der melodischen und harmonischen Themenführung so stark ähneln. Auch hier fällt wieder kein Lied derart aus dem Rahmen, dass man es noch Stunden oder gar Tage danach nicht aus dem Kopf bekommt. Nicht nur ähneln sich die einzelnen Lieder dieses Musicals untereinander sondern auch denen anderer Musicals. Es scheint so, als habe sich für Musicals ein musikalisches Erfolgsrezept herausgebildet, das die Komponisten neuer Musicals mehr oder minder bewusst einhalten. Vielleicht setzt man dabei auf den Erfolg des bekannten, also auf den Wiedererkennungseffekt. Etwas mehr Mut bei der Erfindung melodischer Linien wäre nicht schlecht. Man denke dabei nur an die ersten Exemplare der Gattung Musical, vor allem an „Cats“.

Alexander di Capri (Alexander), Elisabeth Sikora (Lilith|Saskia), Opernchor, StatisterieDennoch überzeugt „Timm Thaler“ durch die frische Inszenierung, die flotten Songs, die bereits erwähnten Texte, die auch jedes Mal gut zu verstehen sind, und vor allem wegen der Darsteller. Da ist vor allem Elisabeth Sikora als Lilith bzw. Saskia zu nenen, die vor allem in ersterer Rolle ein wahres Feuerwerk zündet. Auch Franz Nagler schöpft die Möglichkeiten des bösen Charakters – Zynismus, Eitelkeit, Intriganz, Heuchelei – gründlich aus. Timo Verse ist ein temperamentvoller Junge an der Schwelle zum Erwachsenen, und Michèle Fichtner eine brave, aufrechte Freundin, wobei die beiden jedoch mit den Nachteilen „guter“ Rollen ohne charkakterlichen Ecken und Kanten leben müssen. In weiteren Rollen überzeugen Aleaxander di Capri als leidenschaftlicher Alexander und Karl Grunewald als Vatervornild. bettina Meske beeindruckt als Timms Stiefmutter vor allem durch ihre an Herbert Grönemeyer erinnernde Stimmgewalt. Neben all diesen externen „Musical-Gästen“ überzeugt Volker Werner Meyer aus dem Ensemble des Staatstheaters durch seinen engagierten und darstellerisch gelungenen EInsatz in wechselnden Rollen.
Die Farborgien auf der Bühne, vor allem in den Casinoszenen, die akzentuierten Charaktere – die Bösen mehr als die Guten – bringen viel Leben auf die Bühne, und mit der leicht verständlichen, überschaubaren und doch spannenden Geschichte lassen sich vielleicht neue Zielgruppen diesseits der silbrigen Haare gewinnen. Intendant John Dew hatte bei seiner Ansprache nach der Premiere – eine Seltenheiit! – Recht mit der Feststellung, ein volles Haus könne kein Argument gegen die Qualität eines Stücks sein, obwohl ihm in der Vergangenheit Theaterpuristen ins Stammbuch geschrieben hätten, Erfolg beim Publikum sei kein Beweis einer guten Intendanz. Gerade dieses Musical gibt wieder einmal Anlass dazu, über die intellektuelle Arroganz mancher selbsternannter Theaterexperten nachzudenken, die nur im Provokativen und Schwerverdaulichen Qualität erkennen wollen.
Dem Premierenpublikum, in dem sich erfreulich viele junge Leute befanden, gefiel diese Aufführung jedenfalls ausgesprochen gut, und das zeigten vor allem die jungen Besucher auch durch entsprechende akustische Reaktionen, vom rhythmischen Klatschen über „Bravo“-Rufe bis zu dem heute so beliebten Jaulen.
Weitere Vorstellungen finden am 22. und 28. November sowie am 6., 8., 13., 18., 27., 29. und 31. Dezember statt.

                                                                                 
Frank Raudszus

 

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