Thomas Meyer: „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“

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Der schwierige aber lustvolle Weg eines jungen Juden in die Mündigkeit.

Der Schweizer Autor Thomas Meyer ist selbst halb jüdischen Ursprungs und kennt daher die Eigenarten vor allem der orthodox denkenden Juden, die auch in der Diaspora nicht nur zusammenhalten sondern auch ihre eigenen Brauchtümer weiter pflegen und möglichst nur untereinander heiraten,

1410_wolkenbruchIn seinem Roman geht es um den jungen Mordechai Wolkenbruch, genannt Motti, der als braver Sohn einer jüdischen Familie in Zürich aufgewachsen ist und mittlerweile Jura in Zürich studiert – wie der Autor. Nebenher hilft er dem Vater in dessen Firma. Eine Freundin hat der Mittzwanziger nicht, denn das ist die Angelegenheit seiner Mutter. Die ist natürlich todunglücklich, dass Motti in diesem vorgerückten Alter (!) noch nicht verheiratet ist, und schafft ein jüdisches Mädchen nach dem anderen heran – mit und ohne Heiratsvermittler. Doch Motti kann sich für keine entscheiden, einerseits, weil sie alle nicht besonders hübsch und geistreich sind, andererseits, weil er sich unterschwellig gegen die mütterliche Organisation seines intimsten Bereiches wehrt. In einem der Mädchen findet er jedenfalls eine intelligente und mitfühlende Mitstreiterin gegen die erotische Deutungshoheit der Mütter und heckt mit ihr einige Abwehrmanöver aus, ohne dass deswegen zwischen den beiden eine erotische Spannung entsteht.

Die jedoch spürt er in der Uni sofort beim ersten Anblick der jungen Laura, die in seinem Semester studiert und für ihn unerreichbar ist – oder scheint. Von ferne himmelt er sie heimlich an und sucht scheinbar zufällig ihre Nähe, ohne einen einzigen Schritt weiter zu kommen. Doch eines Tages setzt sich eben diese Laura völlig überraschend in der Vorlesung neben ihn und verwickelt ihn sogar in ein Gespräch. Für Motti dreht sich die Welt plötzlich viel schneller – fast zu schnell, denn er kann mit der lockeren Lebensart der „Schicksen“ – die jüdische Bezeichnung für nicht-jüdische Frauen – nicht umgehen.

Der Zuhörer merkt schnell, dass sich hier eine Frau den passenden Mann sucht, und während Motti noch hilflos nach Strategien zu Lauras Eroberung sucht, hat sie ihn bereits ohne sein Wissen im Griff. Nach einigen scheinbar zufälligen Treffen sitzen sie auf einmal gemeinsam beim Abendessen.

Zu Hause ist derweil die Hölle los, denn Motti kann plötzlich seine Fehlstunden nicht erklären. Dazu muss man wissen, dass in einer strenggläubigen jüdischen Familie der Tagesablauf eines unverheirateten Sohnes unabhängig von seinem Alter minutiös überwacht wird – wenn er sich das gefallen lässt. Motti ist jedoch nichts anderes gewohnt und kann sich gar nicht vorstellen, sich heimlich mit Mädchen seiner Wahl (!) – das heißt: „Schicksen“ – zu treffen oder gar über Nacht wegzubleiben. Doch Laura öffnet ihm nach und nach die Augen dafür, dass es noch eine Welt neben der jüdischen Familie gibt. Erst weicht sein langer Bart einer gestutzten, männlichen Variante, dann fallen die schwarzen Hosen einer Jeans und das weiße Hemd einem bunten T-Shirt zum Opfer. Die Mutter ist entsetzt und droht ihm mit dem Hinauswurf, wenn er sich nicht auf die jüdischen Familienwerte besinnt. Doch Motti kann sich von Laura nicht mehr lösen und taucht bewusst immer tiefer in die nicht.jüdische Welt mit Ausgehen, Alkohol und Parties ein. Als er die erste Nacht in seinem Leben nicht nach Hause zurückkommt, ist der Eklat vollkommen, und es stellt sich die Frage, wo für Motti künftig die Präferenzen liegen: in einem traditionskonformen jüdischen Leben mit arrangierter Ehe, vielen Kindern und enger Einbindung in die Großfamilie oder in einem offenen Leben mit neuen Erfahrungen auf erotischem, gesellschaftlichem und beruflichen Gebiet.

Man ahnt, wohin sich die Waage neigt, doch die Details wollen wir hier nicht verraten, da wir potentiellen Hörern des Hörbuchs nicht die Spannung rauben wollen. Thomas Meyer liest seinen Roman selbst, und es ist eine Freude, ihm zuzuhören. Als Halbjude kennt er sich natürlich in all den Ausdrücken der jiddischen Sprache aus und präsentiert sie mit wahrer Lust am sprachlichen Ausdruck. Bei aller Kritik an der Lebensart der orthodoxen Juden kann er dennoch seine Liebe zu dem Idiom nicht verleugnen und zelebriert förmlich die Sprache seiner Vorfahren. Auch wenn er sich von vielem distanziert, setzt er der Herzlichkeit und der – wenn auch übertriebenen –  Fürsorglichkeit jüdischer Mütter ein kleines Denkmal. Es ist für ihn eine eindeutig anachronistische Welt, wenn auch eine durchaus liebenswerte.

Das Hörbuch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 5 CDs und kostet 19,90 €.

Frank Raudszus

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