Flucht als Zeichen des Absurden

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Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt zeigen Boris Vians Einakter „Die Reichsgründer oder Das Schmürz“.

Wer sich mit dem dünnen Hintergrundtext des Programmheftes nicht zufrieden gibt, sucht im Internet – wir ersparen uns hier das gängige Verb – nach dem Autor und diesem Stück. Die Recherche ergibt, dass Vian darin die französischen Koloniekriege der fünfziger und sechziger Jahre – vor allem in Algerien – verarbeitet hat, die an sich schon eine historische Absurdität darstellten. Dem heutigen Betrachter erschließt sich dieser Bezug nicht mehr, da der Text eine politische Befindlichkeit ausdrückt, die heute nicht mehr gegeben ist. Dafür weckt das Stück ganz andere Assoziationen, die über einen konkreten historisch-politischen Kontext hinausweisen.

Judith van der Werff, Stefan Schuster, Victoria Schmidt, Tina Keserovic

Judith van der Werff, Stefan Schuster, Victoria Schmidt, Tina Keserovic

Die Handlung ist denkbar einfach: eine Familie, bestehend aus Vater(oder Mutter), Tochter und Dienstmädchen, flieht in einem imaginären, turmähnlichen Gebäude vor einem unerträglichen Geräusch Stockwerk um Stockwerk nach oben. Unten lebte die Familie noch in sechs Zimmern, jetzt sind es nur noch zwei, und demnächst vielleicht nur noch eins. Offensichtlich wird der Lebensraum mit zunehmender Höhe immer enger und feindlicher. Der Vater (Stefan Schuster) – wir werden im folgenden nur diesen Elternteil nennen – beschwört in einem einzigen Monolog mit geradezu verzweifeltem Optimismus die Zukunft und rechtfertigt mit fast rituellen Argumenten die ewige Wanderschaft, für die ein großer Seesack steht. Die Familie muss am Beginn der Wanderschaft noch größer gewesen sein, aber einige sind bereits verloren gegangen, ob durch Tod oder Weggang sei dahingestellt, spielt aber auch keine Rolle. Die Tochter Zénobie folgt ihrem Vater zwar, wagt aber schwachen Protest unter Hinweis auf den Platz, den man früher noch gehabt habe. Das Dienstmädchen bricht irgendwann aus ihrem stillen Gehorsam aus, da sie sich offensichtlich ausgebeutet fühlt, protestiert und verschwindet dann. Doch um unsoziale Verhältnisse oder gar Ausbeutung geht es hier nicht. Die drei Protagonisten sind eher als Archetypen einer Gesellschaft zu verstehen, die einem unerträglichen externen Einfluss ausgesetzt ist: dem Krieg, dem Verkehr, der Schnelllebigkeit, dem Stress, dem Konsum – kurz, dem Leben,  und sich der Belastung reflexartig durch Ausweichen, sprich: Flucht zu entziehen versuchen. Der „Fluchtpunkt“ – im wahrsten Sinne des Wortes! – verspricht Frieden und Erlösung, wird aber nie erreicht.

Spontan weckt dieses Stück Erinnerungen an die Absurdität von Samuel Becketts Stücken, an deren Ausweglosigkeit und trotziges Durchhalten. Doch bei näherer Betrachtung liegt eine ganz andere Affinität offen zu Tage, nämlich die zu Boris Vians Landsmann und Zeitgenossen Albert Camus. Der letzte Satz in Boris Vians Stück stammt vom Vater – von wem sonst? – und lautet: „Ich bin zufrieden“. Albert Camus beschreibt in seinem „Der Mythos des Sisyphos“ den Menschen als einen Kämpfer, der unermüdlich und bewusst gegen ein unausweichliches Schicksal ankämpft, und schließt mit den Worten: „Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“. Die Parallelität ist geradezu frappierend. Wenige Sätze davor beschreibt Camus fast wörtlich die Befindlichkeit des Mannes, den Vian später durch das fiktive Hochhaus nach oben steigen lässt: „….ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs„. Boris Vian war zwar mit Sartre befreundet, von Kontakten zu Camus weiß man nichts, aber er wird den Schriftsteller gekannt haben und den Sisyphos-Mythos zumindest unbewusst aus Camus´ Werk oder dem existentialistischen Zeitgeist entnommen haben.

Stefan Schuster als Vater

Stefan Schuster als Vater

Zu dieser Affinität kommt auch die geradezu paradigmatische Einsamkeit der Figuren, die sowohl bei Camus wie auch in Vians Stück offen zu Tage tritt. Die Personen reden nie miteinander im Sinne einer nehmenden und gebenden Kommunikation, sondern sie äußern nur Feststellungen, die an eine imaginäre Instanz gerichtet sind und von dem konkreten menschlichen Gegenüber keine verbindliche oder gar tröstliche Antwort erwarten. Zénobies Erinnerungen an bessere Zeiten sind keine aufrührerischen Proteste gegen ihren ewig weiter ziehenden Vater sondern eher letzte, ungerichtete und hoffnungslose Verzweiflungsrufe. Ähnliches gilt für das Dienstmädchen, dem nicht nur das Dienstverhältnis eine persönliche Kommunikation mit ihrer „Herrschaft“ versagt, sondern auch die Unmöglichkeit, mit dieser Umwelt überhaupt in einen emotionalen Kontakt zu treten.

Der Vater stellt in dieser Konstellation eindeutig eine Autoritätsfigur dar. Diese beinhaltet eine Verantwortung, die wiederum in Gestalt der unerträglichen Dauergeräusche schwer auf ihm lastet. Diese Geräusche weisen nur ein geringe Eigenbedeutung auf, sondern stehen vielmehr für alles Belastende, Überfordernde und nicht Verarbeitete, also auch für das Wohl und Wehe der kleinen Gruppe um den „Vater“ bzw. die „Mutter“. Der klassische Elternbegriff steht bei Boris Vian für eine nicht wahrgenommene oder verdrängte Verantwortung, die mit endlosen, sich wiederholenden Monologen geradezu weggeschwemmt wird. Zur Entstehungszeit des Stücks mag diese Vaterfigur für das Versagen der politischen Elite Frankreichs gestanden haben, heute spiegelt sie die geradezu axiomatische Unmöglichkeit wider, die Komplexität und Unwägbarkeit menschlicher Existenz zu bestehen. Aber Aufgeben ist keine Option, und so wandert der Vater mit seiner stetig ausdünnenden Truppe immer weiter, bis er schließlich ganz allein dasteht mit seinem letzten Satz „ich bin zufrieden“, womit wir wieder bei Camus wären.

Zwei weitere Figuren spielen bei diesem Stück eine Rolle. Da ist erst einmal der Nachbar(Judith van der Werff), auf den der Vater immer wieder wie auf einen Referenzpunkt im Guten und Schlechten hinweist. Politisch lässt sich das als Verweis auf Frankreichs Nachbarn der sechziger Jahre deuten, heute eher als eine anonyme Öffentlichkeit, die in sich so widersprüchliche Züge wie Orientierungsmaßstab, Fremdartigkeit (der „Andere“) und Abneigung vereinigt.

Stefan Schuster, Victoria Schmidt, Tina Keserovic; vorne: Zufit Simon

Stefan Schuster, Victoria Schmidt, Tina Keserovic; vorne: Zufit Simon

Als weitere Figur tritt das „Schmürz“ auf, das wegen seiner titelgebenden Funktion geradezu paradigmatische Züge annimmt. Das Schmürz existiert offensichtlich nur in der Vorstellungswelt des Vaters, da es keinen Text von sich gibt und – zumindest in dieser Inszenierung – nur mit ihm interagiert. Die anderen Personen scheinen es nicht zu bemerken. Matthias Jochmann lässt das Schmürz von einer Tänzerin spielen (Zufit Simon) und sprachlos durch die Szene geistern. Mal tanzt sie einsame Figuren quer über die Bühne, dann wieder stellt sie sich stumm dem Vater in den Weg, versucht ihn aufzuhalten und ihm seinen Seesack zu entwinden. Man kann das Schmürz als die Vision eines ganz anderen Lebens interpretieren, die den unermüdlich weiter wandernden Vater plagt. Die Vision eines unbeschwerten, leichten Lebens, die ihn bisweilen an seinem trotzigen „immer weiter“ zweifeln lässt, seinen inneren Drang zum Weitergehen aber nie besiegen kann. Das Schmürz ist jedoch mitnichten das positive Gegenstück zu einer schlechten Realität, sondern lediglich die moralisch nicht bewertete Möglichkeit eines anderen Lebens. Frei nach Camus kann sich der Mensch gerade nicht für dieses leichte Leben entscheiden, weil er als Sisyphos in diese Welt gesetzt worden ist.

Der junge Regisseur Matthias Jochmann hat das Stück konsequent auf die Linie der existenziellen Einsamkeit hin inszeniert.  Victoria Schmidt als Zénobie und Tina Keserovic als Dienstmädchen sehen weder sich gegenseitig noch den Vater an, sondern sprechen ihre Texte isoliert in einen Raum zwischen sich und dem Publikum hinein. Stefan Schuster spricht seinen Monolog zu einem fiktiven Mitreisenden im Seesack, den er als letzten Bezugspunkt zu einem verlorenen Leben nie aus den Augen und dem Griff verliert. Man könnte hier die Interpretation anhängen, dass materielle Bindungen enger sind als menschliche, muss das aber nicht. Jedenfalls vermeidet auch er den direkten Blickkontakt zu den beiden jungen Frauen und schaut stattdessen des Öfteren zum Nachbarn hinüber, den Judith van der Werff als an der Bühnenseite unermüdlich auf und abmarschierende Figur darstellt – darin selbst wieder eine Kopie des Vaters.

Das Geräusch, vor dem die Gruppe flieht, kommt aus verteilten Lautsprechern und wirkt mit seinem kratzenden, schabenden und schlurfenden Charakter auf die Dauer ausgesprochen nervend. Man kann sich vorstellen, dass jemand vor dieser Dauerbeschallung verzweifelt zu fliehen versucht, und verspürt mit zunehmender Spieldauer die Ausweglosigkeit der Situation.

Nach der Inszenierung von Aki Kaurismäkis „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ hat das Schauspiel ein zweites so ausgefallenes wie eindringliches Kammerstück präsentiert, das nicht nur einen Besuch lohnt sondern auch Anlass zu intensiven Diskussionen gibt. Stefan Schuster liefert in der Hauptrolle des Vaters allein schon durch wegen der Textfülle – aber nicht nur deswegen – eine überzeugende Leistung. Einfache Theaterkost wird dem Publikum damit nicht vorgesetzt; wer sich jedoch unvoreingenommen dieser Inszenierung stellt und sie auf sich wirken lässt, wird daraus mit Sicherheit einige intellektuelle Anregungen zu anschließender Gedankenarbeit mitnehmen.

Frank Raudszus

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