Getanztes Musiktheater mit Witz und viel Farbe

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Das Hessische Staatsballett stellt in Darmstadt die neue Produktion „Weltenwanderer“ vor.

Für seine neue Produktion hatte sich Direktor Tim Plegge drei internationale Choreographen eingeladen, die dem Titel „Weltenwanderer“ Leben einhauchen sollten: Itzik Galili stammt aus Israel und blickt bereits auf eine lange Karriere zurück, der Rumäne Edward Clug begann selbst als Tänzer und ist heute für verschiedene internationale Tanzcompagnien tätig, und der  Deutsche Marco Goecke schließlich, ebenfalls Anfang vierzig, ist heute Haus-Choreograph am „Nederlands Dans Theater“.

A WALK ABOVE: Seraphine Detscher, Tyler Schnese

A WALK ABOVE: Seraphine Detscher, Tyler Schnese

Diese drei Choreographen haben einen Tanzabend zusammengestellt, den man am ehesten mit einem klassischen Konzert vergleichen kann – und das nicht deshalb, weil die Musik wie bei einer Oper aus dem Orchestergraben kommt. Den ersten Satz in diesem metaphorischen Konzert hat Itzik Galili mit der Choreographie „A Walk Above“ beigesteuert. Wie ein guter Eröffnungssatz bietet seine Choreographie eine Fülle von Themen und deren Variationen und öffnet damit die Rezeptionskanäle des Publikums. Der zweite Satz, das von Edward Clug erarbeitete „SSS…“, ist – wenn man so will – ein „Adagio“. Etwas wehmütig, lyrisch verträumt und voller unerfüllter Sehnsüchte. Im dritten Satz schließlich brennt Marco Goecke mit „Suite, Suite, Suite“ ein Feuerwerk der Bewegungen und des Witzes ab, das eines Finalsatzes würdig ist. Die Musik dazu liefert das Staatsorchester unter der Leitung von Joachim Enders, den Klavierpart spielt Waldemar Martynel. Dadurch gewinnt der ganze Abend auch musikalisch deutlich an Wert, da eine live gespielte sinfonische Musik wesentlich stärkere Präsenz entwickelt als jede Musikkonserve.

A WALK ABOVE: Miyuki Shimizu, Ensemble

A WALK ABOVE: Miyuki Shimizu, Ensemble

In Itzik Galilis „A Walk Above“ kommen musikalisch nacheinander Pärt, Händel (Largo aus „Xerxes“), Vivaldi („Winter“ aus „Vier Jahreszeiten“), Mozart (Klavierkonzert Nr. 23, Andante) und Satie (Gymnopädie) zu Wort. Zu Avo Pärts etwas zu ausgedehntem „Mirror in an mirror“ tanzt ein einzelner Tänzer durch ein Blumenfeld, das eine Tänzerin anschließend Blume für Blume abpflückt. Diesen Teil hätte man sicher etwas kürzen können, zumal Pärts Musik – ähnlich wie die „minimal music“ – nur aus aufgelösten Klavierakkorden und einer Geigenstimme besteht und dasselbe Motiv mit kleineren Variationen in einer gefühlten Endlosschleife wiederholt. Beeindruckend dagegen der Muskelmann, der sich zu Händels „Largo“ wie eine griechische Statue im fokussierten Licht des Scheinwerfers aus dem Bühnenboden herausstemmt. Zu Vivaldis „Winter“ tanzt ein Paar eine komödiantische Beziehungsgeschichte, in der zuerst er sie abweist und dann am Ende, wenn er eine rote Rose zückt, sie ihn abblitzen lässt. Mozarts „Andante“ begleitet eine Gruppenchoreograpie, in der mehrere Paare das Beziehungsmotiv wieder aufnehmen und in neckischer Rokoko-Manier nach allen Regeln der (Tanz-)Kunst durchspielen. Bei der abschließenden „Gymnopédie“ Erik Saties schließlich fallen die Blumen wieder alle vom Himmel und bleiben auf der Bühnenwiese stehen. So schließt sich der Kreis, den man durchaus als Kreislauf aus Einsamkeit, Sehnsucht, Suche, Kennenlernen, Vereinigung und Trennung sehen kann. Tänzerisch bietet diese Choreographie die ganze Vielfalt vom introvertierten Solotanz über den kraftvollen Körperkult bis zur ausgelassenen Akrobatik.

SSSS: Stellina Jonot, Igli Mezini

SSSS: Stellina Jonot, Igli Mezini

Der Titel „SSS…“ der zweiten Choreographie von Edward Clug verweist auf die Stille und Mehrdeutigkeit der Nacht. Edward Clug erzählt zu Chopins elegischen Nocturnes Nr. 9, 20, 72 und 27 kleine Geschichten über Liebe, Sehnsucht und Enttäuschung. Menschen streifen einsam durch die Nacht, verharren auf Plätzen, suchen Nähe, finden und verlieren sie wieder. Sehnsucht nach Nähe und Angst vor der Enttäuschung überlagern sich und führen zu entsprechenden Reaktionen, die sich in den Figuren der Tänzer und Tänzerinnen niederschlagen. Obwohl die schattige Seite des Menschen überwiegt, fehlt auch hier der Witz nicht, etwa wenn zwei Männer um eine Frau buhlen, oder wenn eine Frau die Avancen eines einsamen Mannes abwehrt. Der abgedunkelte Bühnenraum unterstreicht das ambivalente Wesen der Nacht, und die Tänzer umschreiben die Befindlichkeiten der Protagonisten durch intensive, bisweilen traumwandlerische Bewegungen.

SUITE SUITE SUITE: Vítek Kořínek, Ensemble

SUITE SUITE SUITE: Vítek Kořínek, Ensemble

Das Finale in Gestalt von Marco Goeckes „Suite, Suite, Suite“ kommt als halbe Rock-Oper zu Musik von Johann Sebastian Bach daher. Eine „Rote Garde“ aus einer Frau und einer größeren Gruppe von Männern in roten Anzügen interpretiert die Sätze zwei bis vier der Suite – daher der Titel – Nr. 4 D-Dur: Bourée I und II, Menuett I und II, Gavotte und Réjouissance. Dabei zieht Marco Goecke alle Register der Bewegungskunst, vor allem der Gruppenfiguren. Trotz der sportlichen Ausprägung dieser Tanzformen gerät die Vorführung nie zu einer bloßen Leistungsshow, sondern Goecke stellt den Witz bestimmter Bewegungen in den Vordergrund, seien es psychische Befindlichkeiten, die sich in der Körpersprache einzelner Tänzer(innen) ausdrücken, oder seien es gruppendynamische Effekte, die sich in geradezu grotesken aber stets harmonischen Bewegungsabläufen niederschlagen. Da wirbeln die Arme, dass man nur fleischfarbene Kreise wahrnimmt, da springen die Tänzer sich gegenseitig an oder umgarnen sich, bilden mal frontale Figuren, mal eine nach hinten ins Dunkle verlaufende oder von dort her kommende Linie, fallen scheinbar nach links oder rechts heraus, um sich im Fallen zu fangen und in eine flüssige Bewegung überzugehen. Bei dieser Choreographie gibt es viele Anlässe zu spontanen Lachern, und das Publikum nutzt sie. Dabei ist der Witz nie plakativ-platt sondern stets diskret-deutlich. Minutenlange Pausen zwischen den einzelnen Sätzen der Suite geben einzelnen oder mehreren Tänzern die Gelegenheit zu Solo-Auftritten, die sich an keiner Musik orientieren müssen sondern die freie Entwicklung der Kreativität erlauben. Diese Chancen nutzen die Tänzer zu so eigenwilligen wie ausgefallenen Bewegungsformen, die jedoch nie konstruiert sondern stets flüssig und natürlich wirken, auch wenn sie noch so grotesk sind.

Das Publikum zeigte sich angetan von dieser neuen Produktion und spendete kräftigen, lang anhaltenden Beifall für alle Beteiligten.

Frank Raudszus

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