Friedrich Ani: „Der namenlose Tag“

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Ein „Beinahe“-Kriminalroman über den Tod eines jungen Mädchens.

Der Münchner Hauptkommissar Jakob Franck ist seit kurzem pensioniert. Seit seiner Scheidung lebt er allein, aber nicht einsam. Täglich besuchen ihn die Toten seiner polizeilichen Karriere und reden über ihr Leben und Sterben. Doch eines Tages steht ein lebender Mann vor seiner Tür, dessen Tochter sich vor zwanzig Jahren das Leben nahm. Ludwig Winter hatte nach dem Tod der Tochter und dem Freitod seiner Frau ein Jahr später den Halt verloren, war lange Zeit Alkoholiker und hat sich nur langsam wieder gefangen. Jetzt beschwört er Franck, der damals die Ermittlungen geleitet hat, endlich den Mörder seiner Tochter festzunehmen, den er zu kennen glaubt.

1511_namenloser_tagFranck hatte damals selbst kein gutes Gewissen bei der Einstellung der Ermittlungen wegen erwiesenen Selbstmordes. Man hätte einzelne – wenn auch schwache – Spuren durchaus weiterverfolgen können. So nimmt er die Ermittlungen auf eigene Rechnung als Privatmann wieder auf. Er spricht mit ehemaligen Mitschülern der jungen Frau, während er den vom Vater der Toten dringend Verdächtigten erst einmal außen vor lässt. Die labile psychische Situation Ludwig Winters und seine unbewiesenen Behauptungen lassen es ihm nicht geraten erscheinen, diesen Mann, einen angesehenen Zahnarzt, gleich mit dem Verdacht zu konfrontieren.

Hier sieht man als Zuhörer natürlich schon einen starken Verdacht wachsen, zumal ehemalige Mitschüler den Verdacht bestätigen, allerdings nur auf der Basis damaliger Gerüchte. Die lange Zeit und der Unwillen einiger Bekannten und Verwandten der Toten, diese Angelegenheit noch einmal aufzurühren, lassen die Recherchen nur langsam voranschreiten. Einen ersten Einblick in die Familie gibt ihm eine Schwester der Mutter, die er für dieses Gespräch extra in Berlin besucht. Dabei und aus anderen Aussagen schält sich langsam ein Verdacht gegen Ludwig Winter, den Vater, heraus. Die Dinge werden immer verworrener, und Stück für Stück entblättert sich dabei ein starker, aber auch eigenwilliger Charakter der jungen Frau, die sich von ihrem Vater gegängelt fühlte und sich nach mehr Freiheit sehnte.

Friedrich Ani hat diese Geschichte als typischen Kriminalroman angelegt, in dem ein Kommissar einen alten Fall wieder aufrollt und nach dem Täter sucht. Lange Zeit sucht man als Zuhörer eifrig nach Verdächtigen oder Beweisen und forscht bei jedem Interview einer mehr oder minder beteiligten Personen nach möglichen neuen Aspekten und Beweisen oder zumindest Indizien. Erst spät schält sich heraus, dass es dem Autor nicht um die Überführung und Bestrafung eines Täters geht, sondern um die gesellschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen und die psychologischen Verhältnisse im speziellen. Zunehmend zeigt sich, dass alle Beteiligten damals – wie heute – unter Sprachlosigkeit gelitten haben. Man fraß Demütigungen und Ungerechtigkeiten in sich hinein, statt sie offen anzusprechen und im Dialog zu klären. Das wiederum ist auf die Familienverhältnisse der Elterngeneration zurückzuführen, die von Leistungsdruck und Unterordnung geprägt war. Vater und Mutter der jungen Frau waren es nicht gewohnt, mit ihrem Kind über unterschiedliche Lebensvorstellungen zu sprechen, sondern waren es gewöhnt, die Dinge widerspruchslos hinzunehmen. So entwickelte sich eine dumpfe Atmosphäre von Frustration, Beschwichtigung und Aufbegehren.

Am Ende kann Jakob Franck den Lesern  und Zuhörern zwar keinen Schuldigen präsentieren, der das Gerechtigkeits- und Sühnebedürfnis befriedigt, entlarvt dagegen die Familie als Ort dumpfer Ressentiments zwischen den Generationen. Dabei verzichtet er jedoch auf plakative Vorwürfe gegenüber der Elterngeneration und auf Überhöhung einer angeblich Freiheit und Gerechtigkeit einfordernden Jugend, sondern zeigt deutlich die Schwächen und Egoismen beider Seiten auf. Am Ende steht die Erkenntnis, dass Kommunikation innerhalb und außerhalb der Familie die angespannte Situation hätte entkrampfen können und dass einige Beteiligte – jeder auf seine Weise – zumindest moralische Mitschuld auf sich geladen haben – und das auch spüren.

Udo Wachtveitl, den wir als Kommissar Leitmayr aus dem Münchner „Tatort“ kennen, liest diesen Roman mit viel Gespür für die einzelnen Charaktere und Handlungen und bringt vor allem unüberhörbares bayrisches Lokalkolorit ein.

Das Hörbuch ist im Verlag Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst 5 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von sechseinhalb Stunden und kostet 19,99 Euro.

Frank Raudszus

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