Willkommenskultur in Fraktur

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Das Staatstheater Darmstadt erntet mit der Premiere des Musicals „Cabaret“ viel Beifall.

Thomas Mehnert, Petra Welteroth Foto: Candy Welz

Thomas Mehnert, Petra Welteroth
Foto: Candy Welz

Ein übergroßes „Willkommen“ begrüßt die Zuschauer zu Beginn von der Rückwand der Bühne. Das ist jedoch in mehrfacher Hinsicht durchaus ambivalent. Einerseits bezieht es sich konkret auf das berühmte Eingangslied „Welcome – Bienvenue …“ des Conferenciers, andererseits erinnert es an die heftig diskutierte Willkommenskultur der deutschen Regierung gegenüber den Flüchtlingsströmen. Die politische Perspektive dieser Begrüßungsformel steckt jedoch in der Schriftform: altdeutsche Fraktur, wie sie das Dritte Reich gerne nutzte. Damit sind die Eckpfeiler für die Interpretation bereits gesetzt.

Das Willkommen gilt im Stück ganz konkret auch dem amerikanischen Schriftsteller Cliiford Bradshaw, der Anfang der Dreißiger Jahre in das Berlin der ausgehenden Weimarer Republik reist, um sich dort zu einem Roman inspirieren zu lassen. Wegen seiner knappen Finanzen muss er mit der Vermieterin um die Miete feilschen, und später unternimmt er für einen Freund, den er bei der Ankunft in Berlin kennengelernt hat, dubiose Reisen nach Paris, die jedoch Geld einbringen. Bei seinem ersten Abend im „Cabaret“ lernt er die Sängerin Sally kennen, die sich schnell in ihn verliebt und sich frech bei ihm einnistet. Als sich schließlich Bradshaws Vermieterin mit dem jüdischen Gemüsehändler verlobt, lässt Cliffs Bekannter die Maske fallen und entpuppt sich als Anhänger der Nazis. Daraufhin stellt Cliff die Reisen nach Paris ein und will mit der mittlerweile schwangeren Sally in die USA zurückkehren. Doch diese weigert sich, lässt das Kind abtreiben und geht wieder ins „Cabaret“, weil sie die politische Gefahr durch die Nazis unterschätzt. Die Vermieterin jedoch riecht die kommenden Ereignisse förmlich und löst die Verlobung mit ihren jüdischen Bräutigam wieder. So nehmen die Dinge ihren unvermeidlichen Lauf. Der Zuschauer weiß, was passieren wird, und daher kann das Stück mit Cliffs Abreise ein so offenes wie gewisses Ende nehmen.

Markus Schneider, Florian Weigel Foto: Candy Welz

Markus Schneider, Florian Weigel
Foto: Candy Welz

Das Staatstheater hat dieses Stück – wie es bei Musicals oft üblich ist -überwiegend mit externem Personal produziert. Allein ein Blick auf das ausgedünnte feste Opernensemble und den Spielplan zeigt, dass dies mit internen Kräften gar nicht zu schaffen wäre. Das beginnt mit der Regie, für die man die ausgewiesene Musical-Expertin Nicole Claude Weber gewinnen konnte, und setzt sich fort mit dem Berliner Bühnen- und Kostümbildner Friedrich Eggert sowie dem ebenfalls aus Berlin stammenden Ch0reographen Friedrich Tölle. Von den Darstellern auf der Bühne stammen mit Thomas Mehnert (Herr Schultz) und Michael Pegher (Conférencier) nur zwei aus dem eigenen Ensemble. Darüber hinaus ist jedoch der Opernchor sowohl als Ensemble als auch in einzelnen Soli stark vertreten. Für die Musik ist das Orchester des Staatstheaters unter der Leitung des Ersten Kapellmeisters Michael Nündel zuständig. Man sieht, diese Inszenierung ist ein nationales Gemeinschaftswerk auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt.

Den Mittelpunkt des Bühnenbild bildet das Varieté „Cabaret“ mit seinem umglitzerten Vorhang und dem durch Stühle angedeuteten Zuschauersaal. Über dieser Bühne auf der Bühne leuchtet auch der bereits erwähnte Willkommensgruß ins Publikum, der dann jedoch gegen Ende des Stücks durch einen scheinbar technischen Defekt, in Wirklichkeit aus metaphorischen Gründen in einzelne Buchstaben zerfällt. Diese Kulisse wechselt sich dank der Drehbühne mit Cliff Bradshaws Pensionszimmer, der Wohnung der Vermieterin und einem nur angedeuteten Bahnhofsumfeld ab. Letzteres wirkt bewusst kahl und ohne jedes Lokalkolorit, um das Fremde und Abweisende besonders dieses (Berliner) Bahnhofs hervorzuheben. Die Interieurs der Wohnräume sind konkret kleinbürgerlich gehalten – um nicht den Ausdruck „spießig“ zu benutzen – und spiegeln damit den kleinbürgerlichen Nährboden des langsam aufkeimenden totalitären Systems wider. Die Kleidung der Protagonisten – die Vermieterin im unvermeidlichen, abgetragenen Morgenmantel, Bradshaw in Anzughose, Hemd und Pullunder und Herr Schultz im etwas zu weiten Anzug, unterstützt dieses triste Ambiente noch. Das „Cabaret“ setzt dagegen einen fast grell zu nennenden Kontrast mit viel Glitzer, betont eleganten Abendanzügen und knappster Kleidung der jungen Damen. Hier wird das Gegenstück zur tristen Wirklichkeit einschließlich einer tapferen Realitätsverweigerung inszeniert. Der Conférencier (Michael Pegher) zeigt als Paradebeispiel, wie sehr man eine Parallelwelt geradezu heraufbeschwören kann. Dabei spielt er durchaus eine ambivalente Rolle. Neben seiner Aufgabe als Einpeitscher des Publikums und Steigerung des Unterhaltungswertes spielt er in gewisser Weise auch die Rolle eines Aufpassers, zwar nicht im politischen aber im geschäftlichen Sinne. Er darf die störenden oder gar beängstigenden Eindrücke von draußen gar nicht erst ins „Cabaret“ lassen und muss alle entsprechenden Stimmungsschwankungen durch Dynamik und gesteigerte Begeisterung bereits im Entstehen bekämpfen. Dabei sind ihm Politik und Gesellschaft gleichgültig. Michael Pegher bringt diese Doppeldeutigkeit sowohl stimmlich als auch mimisch und vor allem körpersprachlich überzeugend zum Ausdruck. Dass ausgerechnet er der mit dem Juden verlobten Vermieterin den Ziegelstein durchs Fenster wirft, ist weder zufällig noch auf Besetzungsprobleme zurückzuführen, sondern soll wohl die ambivalente Haltung vieler Vertreter von Kunst und Unterhaltung in dieser kritischen Zeit zum Ausdruck bringen.

Cabaret-Girls

Cabaret-Girls Foto: Candy Welz

Die Figur der Vermieterin ist ein weiterer Eckpfeiler dieser Inszenierung. Sie ist das Paradebeispiel einer biederen „kleinen Frau“, die ihren Lebensunterhalt durch Vermietung bestreitet und moralische Aspekte gegen ihren Geldwert abwägt, wenn zum Beispiel das junge Fräulein Kost immer neue Männer für geldwerte Schäferstündchen ins Haus schleppt. Den Heiratsantrag des jüdischen Gemüsehändlers nimmt sie schnell an, bevor der es sich noch einmal überlegen kann. Als sie jedoch die plötzlich wachsende Feindschaft der aufkommenden „Bewegung“ gegen die Juden erkennt, löst sie die Verlobung ohne große Emotionen. Ihre bürgerliche Solidarität gilt nicht ihren diskriminierten Mitmenschen sondern vor allem ihren Geschäft, von dem sie lebt. Man nimmt ihr ab, dass sie nichts gegen Juden hat, aber wenn sie schlecht für ihr Geschäft sind, distanziert sie sich von ihnen. Die Regie lässt hier sozusagen „subkutan“ die gesellschaftspolitische Erkenntnis einfließen, dass der Nationalsozialismus ein gutes Stück weit auch von diesem kleinbürgerlichen Egoismus im Verein mit einer voreilenden Unterwürfigkeit getragen wurde.

Als Gegenstück dazu erscheint Ernst Ludwig (Christoph Bornmüller), den Bradshaw auf dem Bahnhof kennenlernt und für den er mehrere Male in dubiosem Auftrag nach Paris reist. Ludwig erscheint als patenter, ehrlicher Mann, der sich sowohl um Bradshaw als auch um seine eigene Englischlenntnisse bemüht. Doch als er bei der Verlobungsfeier von Bradshaws Vermieterin erfährt, dass sie mit einem Juden verlobt ist, rastet er buchstäblich aus, stößt Beschimpfungen aus und verlässt die Feier. Mit diesem Eklat endet nicht nur der erste Teil des Musicals, sondern auch die unbeschwerte Zeit der durchfeierten Nächte und erotischen Abenteuer. Von jetzt an kriecht die Angst vor der neuen Macht durch die Reihen der Beteiligten, allerdings erst nur bei wenigen wie Cliff Bradshaw. Die Vermieterin trennt sich von dem Gemüsehändler, dieser jedoch zieht nur eine Straße weiter, weil das mit den Nazis „nicht lange dauern kann“. Und auch Sally tut die „Bewegung“ mit einer Handbewegung ab, weil ihr die Bühne wichtiger ist als jegliche politische Aufregung. Dennoch ist die Stimmung auch im „Cabaret“ nicht mehr die selbe, sondern wandelt sich zu einem fast infantilen Trotz, der die wahre Gefahr unterschätzt. Das kommt am besten in dem den ersten Teil abschließenden Song „Der morgige Tag gehört mir (Tomorrow belongs to me)“ zum Ausdruck, dessen scheinbar harmloser Refrain angesichts des Zeitpunkts der Handlung eine völlig neue Bedeutung gewinnt. So stellt sich der Chor denn auch frontal zum Publikum auf und akzentuiert das „Morgen gehört mir“ mit einem gefährlichen Unterton.

Lena Lafrenz, Steven Klopp, Marianne Curn, Ellen Wawrzyniak, Michael Pegher, Marc Baumann, Nina Bülles, Florian Weigel, Claudia Artner Foto: Candy Welz

Lena Lafrenz, Steven Klopp, Marianne Curn, Ellen Wawrzyniak, Michael Pegher, Marc Baumann, Nina Bülles, Florian Weigel, Claudia Artner
Foto: Candy Welz

Auf diese Weise gelingt es der Regisseurin, diesem Musical mit seinen eingängigen Melodien und den schmissigen Varieté-Einlagen einen Ernst zu verleihen, der nicht plump und mit dem großen Zeigefinger daherkommt sondern sich ebenso unterschwellig ausbreitet wie die politische Gefahr selbst. Das Hakenkreuz wird nur einmal in einer pantomimischen Szene gezeigt, in der eine Parteigruppe tagt, doch gerade diese Sprachlosigkeit und scheinbare Nebensächlichkeit übt eine bedrückende Wirkung aus. So verschärft sich bis zum Schluss der Gegensatz aus politischer Realität und der Scheinwelt des Varietés immer stärker, und der Conférencier muss geradezu verzweifelt gegen diesen Stimmungswechsel ansingen und anschreien. Dabei wirkt er hinter seiner heiter-begeisterten Maske zunehmend angespannt und isoliert, denn einerseits sinken die Besucherzahlen, andererseits bringen die verbleibenden Besucher eine andere Grundstimmung mit: das auftrumpfende Selbstbewusstsein der „Bewegung“, die jetzt bestimmt, was gezeigt werden und wer daran teilnehmen darf. Die Inszenierung zeigt dies durch kleine Kunstgriffe wie Körperhaltung und Mimik sowie durch eine zunehmende Vereinzelung der Figuren auf der Bühne, als hätte man Angst, das falsche Wort oder mit dem falschen Menschen zu reden.

Dorothea Maria Müller, Markus Schneider

Dorothea Maria Müller, Markus Schneider Foto: Candy Welz

Und dennoch kommt auch die Unterhaltung zu ihrem Recht, das Lebensgefühl der ausgehenden zwanziger Jahre, das noch von der Erleichterung des Kriegsendes zehrte und die jahrelangen Entbehrungen mit einem Fest der Verschwendung kompensierte. In den temperamentvollen Songs und Tänzen dieses Musicals verdichtet sich noch einmal die besinnungslose Ausgelassenheit, die etwas von dem Tanz auf dem Kraterrand hat. In der Darmstädter Inszenierung kommt das mit dem entsprechenden Schwung einerseits und mit der damit untrennbar verbundenen Schärfe zum Ausdruck. Allen voran ist dabei Michael Pegher als Conférencier zu nennen, der mit geradezu verzweifelter Begeisterung gegen die bedrohlichen Verhältnisse ansingt und die Freiheit des Showbiz gegen den Zeitgeist zu retten versucht. Ebenso temperamentvoll, wenn nicht gar „verrückt“, spielt und singt Dorothea Maria Müller als dem Variété und den Männern verfallene Sally Bowles. Petra Welteroth spielt eine scheinbar weltfremde, aber im Moment der Gefahr sehr „pragmatische“ Zimmerwirtin und Thomas Mehnert den verliebten und quirligen Gemüsehändler Schultz. Marianne Curn ist als Fräulein Kost eine kesse Vertreterin des ältesten Gewerbes der Welt und Christoph Bornmüller als Ernst Ludwig ein Wolf im Schafspelz. Markus Schneider hat als Clifford Bradshaw dagegen die undankbare Rolle des braven und ordentlichen Schriftstellers, der sich an die verrückte Welt des „Cabarets“ und die politischen Strömungen erst einmal gewöhnen muss, und kann daher nicht mit Witz und Temperament glänzen.

Der Chor zeigt sein Können sowohl in typischen Gruppenszenen als auch in einzelnen Solo-Auftritten und hat großen Anteil an dem Gelingen dieser temporeichen Inszenierung. Das Orchester liefert dazu aus dem Graben punktgenau die Musik, die nie dominiert, aber sich stets gegen das Bühnengeschehen zu behaupten weiß.

Das Premierenpublikum spendete lang anhaltenden, begeisterten Beifall, und man darf annehmen, dass diese Inszenierung in Darmstadt eine goldene Zukunft haben wird.

Frank Raudszus

 

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