Irrungen und Verwirrungen der jungen Zöglinge

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Die Theaterwerkstatt für Jugendliche des Staatstheaters Darmstadt inszeniert Frank Wedekinds Drama „Frühlingserwachen“.

Der Titel dieses Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Stücks suggeriert Leichtigkeit, Aufbruchsstimmung und Fruchtbarkeit. Doch der Autor beabsichtigte mit seinem Drama etwas ganz anderes. die Entlarvung der verklemmten und bigotten Sexualmoral der wilhelminischen Epoche.

1604_fruehling_1Die Abschlussklasse eines Gymnasiums könnte unbeschwert auf das Abitur zugehen. Doch da ist der schwache Schüler Moritz, aus kleinen Verhältnissen stammend und unaufgeklärt, der gegen die drohende Relegation kämpft. Sein Freund Melchior stammt zwar aus einem liberalen Haushalt, ist jedoch ebenfalls der rigiden Sexualmoral und einer mangelhaften wenn nicht gar nicht-existenten Aufklärung ausgesetzt. Beide Jungen freunden sich mit Mädchen oder haben zumindest Chancen bei ihnen. Doch Moritz versinkt in schulisch bedingte Depressionen, weist die Mädchen ab und bringt sich schließlich um, obwohl Melchior ihm noch helfen will. Dieser selbst geht eine Beziehung mit der jungen Wendla ein, die ebenfalls nur nebulöse Vorstellungen von Liebe, Ehe und vor allem Fortpflanzung hat. So wird sie unvermeidlich schwanger, und die Mutter zwingt sie zwecks Vermeidung der Schande zur Abtreibung, an der sie stirbt. Zum Schluss steht Melchior vor dem Grab seines auch posthum von der Gesellschaft verurteilten Freundes und ringt mit dem Gedanken an Selbstmord. Ein vermummter Unbekannter hält ihn jedoch davon ab und gibt ihn so dem Leben zurück.

1604_fruehling_2Die Regisseurin Nike-Marie Steinbach stand offenbar vor dem Problem, viel mehr weibliche Teilnehmer unterbringen zu müssen, als das Stück hergibt. So verteilte sie die vier weiblichen Rollen – Wendla, Martha, Ilse und Thea – auf fünfzehn junge Mädchen. Die Mütter treten nur in den Texten der Schülerinnen auf, ebenso die Väter – und Lehrer wie andere Autoritätspersonen treten in dieser Inszenierung überhaupt nicht auf. Es geht der Regisseurin ausschließlich um die Situation und die Befindlichkeit der Jugendlichen. Diese ist in gewisser Weise ja auch zeitlos, während die Schilderung der gesellschaftlichen Situation in gewisser Weise gegenstandlos geworden ist. Nicht die Anklage gegen eine bigotte und verklemmte Gesellschaft steht im Mittelpunkt, sondern die Probleme der Jugendlichen beim Erwachsenwerden.

Gewalt in der Familie spielt – leider – auch heute noch eine Rolle, ebenso ein autoritärer Erziehungsstil, der auch in heutiger Zeit noch auf Vertreter rechnen kann. Zumindest fassen die heranwachsenden Jugendlichen die Handlungsweise der Eltern – und der Lehrer  – oft so auf. Damit kann Nike-Marie aus dem Stück eine Revue jugendlicher Befindlichkeit kreieren, die sowohl eine gewisse innere Konsistenz aufweist und dem Kontext des Originals weitgehend entspricht als auch darüber hinaus an Aktualität gewinnt.

1604_fruehling_3Als Bühnenbild hat sie eine Reihe transparenter Plastik-Badewannen aufgebaut, wie man sie im Sommer am Strand nutzt, jede halb gefüllt mit kleinen Plastikbällen. In dieser Wannenlandschaft spielt sich die ganze Inszenierung ab. Hier ziehen sich Melchior und Moritz in stille Eckchen zurück und sprechen über ihre schulischen und sexuellen Probleme. Die Mädchen spielen – vielleicht gezwungenermaßen durch ihre Zahl – eine dominante und bisweilen sogar offensive Rolle. Immer wieder brechen sie in spontane Lebenslust aus, nur unterbrochen durch düstere Berichte aus ihren Elternhäuser, wo Einengung, Verbote und Gewalt regieren. Doch die Gemeinschaft der Mädchen kompensiert diesen familiären Druck immer wieder. Hier gehen sogar die Mädchen auf die Jungen zu, werden jedoch – in Umkehrung hergebrachter Verhältnisse – sogar abgewiesen. Die Mädchen träumen von und reden über Befreiuung und Selbstverwirklichung, denken auch über Beziehungen und Kinderkriegen nach, die Jungs dagegen sind eher depressiv gestimmt. Die Regisseurin nimmt hier durchaus die komplexen männlichen Rollen auf und setzt sie um, den Mädchen nimmt sie jedoch ein Stück der Tragik und lässt sie in gewisser Weise als die lebenstüchtigeren erscheinen. Wendla stirbt in dieser Inszenierung nicht an der Abtreibung sondern gesteht Melchior nur ihre Schwangerschaft, woraufhin dieser sich nicht zu einer eindeutigen Reaktion durchringen kann. Das Stück endet in einem geradezu expressionistischen Ausbruch Melchiors. Moritz ist bereits früher verschwunden, und sein Selbstmord wird nur aus den mehr oder minder betroffenen Berichten der Mädchen kolportiert.

Die jungen Leute spielen mit viel Witz und Temperament, und auch die ernsten Tönen dieses Stückes kommen durchaus zum Ausdruck. Einzelne Darstellerinnen zeigten ausgeprägtes darstellerisches Talent, wenn sie sich dem Publikum mit ausdrucksstarker Mimik, Gestik und Sprache präsentierten. Doch alle Darsteller zeichneten sich durch großes Engagement und Spielfreude aus. Man merkte, dass es vor allem den zahlreichen jungen Mädchen spiel Spaß machte, in diesem Stück mitzuspielen und ihre unterschiedlichen Fähigkeiten zu zeigen. Ein unterhaltsamer Abend, der nicht nur die sich gegen alle Hindernisse stemmende Aufbruchsstimmung junger Menschen zeigte, sondern auch die seelischen und faktischen Probleme junger Leute zum Ausdruck brachte.

Viel Beifall des Premierenpublikums, das sich zum größten Teil aus Verwandten und Freunden des Ensembles rekrutierte und sich daher besonders über die gelungene Premiere freute.

Frank Raudszus

 

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