Bittere Groteske über das Tier im Menschen

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Eines hat diese schräge Inszenierung des Staatstheaters Darmstadt sicherlich bereits mit der Premiere erreicht: eine Diskussion zwischen den verschiedenen Lagern des Publikums. Denn wenn man ihr ein Attribut auf jeden Fall nicht anheften kann, dann die der Langeweile. Das beginnt mit dem Bühnenbild, steigert sich bei den Kostümen und trifft auch auf den Ablauf der Handlung zu.

Worum geht es? Das Schauspiel des Staatstheater hat auf eine von Soeren Voima erstellte Theaterbearbeitung des Romans „Ruf der Wildnis“von Jack London zurückgegriffen. Dieser Roman eignet sich – im Gegensatz zu so manchem anderen Roman – aus mehreren Gründen für eine Bühnenversion. Erstens besteht er aus einer spannenden und zielgerichteten Handlung, und zweitens bietet er sich ideal als Basis für eine metaphorische Sichtweise an. Die scheinbar zentral auf Tiere bezogene Handlung fordert geradezu die Übertragung auf die Schwächen der menschlichen Gesellschaft heraus; nicht nur dadurch, dass die Menschen in diesem Buch schlecht wegkommen, sondern auch dadurch, dass die Tiere menschliche Züge in allen Schattierungen annehmen.

Christoph Bornmüller als Buck

Dem Hund Buck geht es gut bei einem Richter im sonnigen San Diego, bis eines Tages der Gärtner ihn aus Geldnot an Hundefänger verkauft. Unter desaströsen, fast das Hundeleben kostenden Umständen gelangt Buck nach Alaska, wo er Goldgräbern während des Goldrauschs zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Zugtier dienen soll. Das dortige Leben ist eine einzige Leidenstour für Buck, die er nur knapp überlebt. Mehrere Male steht er am Rande des Todes, sei es durch Ertrinken, Erfrieren, Verhungern oder durch die Schläge des jeweiligen Besitzers. Nur wenige seiner Hundegenossen überleben die Torturen, und wer nicht mehr im Gespann arbeiten kann, den erschießen die so skrupellosen wie geldgierigen Goldgräber. Am Ende findet er jedoch einen freundlichen Besitzer, der auch noch mehr als genug Gold findet. Beim nun freien Herumstreifen trifft er einen Wolf, mit dem er sich langsam anfreundet. Als er eines Tages nach einem längeren Ausflug in der Siedlung alle Bewohner einschließlich seines Besitzers ermordet vorfindet, schließt er sich dem Wolfsrudel an. Der Ruf der Wildnis hat ihn ereilt.

Die metaphorische Aussage Jack Londons ist klar. Er verachtet die aus seiner Sicht verkommene Gesellschaft geldgieriger Menschen ohne jegliche Empathie oder Ethik und preist den hohen Wert einer naturverbundenen Lebensart. Der Rückzug Bucks zu den Wölfen zeigt nichts anderes als Londons Sehnsucht nach einem naturverbundenen Leben auch der Menschen. Und bei der Schilderung von Bucks Leidensweg liefert er eine „Tour d´horizon“ durch die Abgründe des menschlichen Wesens. Jede Untat an den Tieren lässt sich als analoge Tat – latent oder konkret – an Mitmenschen deuten, wie ja auch die Berichte aus den Goldgräbersiedlungen beweisen. Die Ausbeutung und Misshandlung der Tiere wirkt jedoch auf Leser wegen der fehlenden gemeinsamen Augenhöhe wesentlich grausamer als ein Kampf unter Menschen. Dort billigt man dem Opfer stets die Augenhöhe und damit Verteidigungsmöglichkeiten zu – oder gibt ihm gar eine Mitschuld an den oft tödlichen Auseinandersetzungen. Tiere – vor allem Hunde – begeben sich oft freiwillig in eine Abhängigkeitsrolle zu Menschen und buhlen förmlich um deren Liebe und Anerkennung. Da wirkt Brutalität ihnen gegenüber besonders abstoßend.

Ensemble

Regisseur Christian Weise hat das Stück bewusst als Tierdrama aufgeführt, wobei er die Hunde ohne verfremdende Abstraktion unmittelbar durch die Schauspieler darstellen lässt. Jana Findeklee und Joki Tewes haben dazu ein Bühnenbild gebaut, das einen eisigen Felsen in den Mittelpunkt stellt. Um diesen herum sind abgenutzte Wände aus schäbigen Goldgräberkneipen angeordnet, und im Hintergrund erhebt sich ein kalter blauer, mit dunklen Wolken verhangener Polarhimmel.

Weise lässt das Stück mit einem Paukenschlag beginnen: in einer dunklen Polarnacht heulen die hungrigen Hunde unterhalb des Felsens, auf dem oben ein bewaffneter Mensch im Pelz liegt. Nachdem er die wilden Hunde noch einmal mit einem Pistolenschuss vertrieben hat, kehren sie zurück, wagen sich heulend auf den Felsen vor und stürzen sich auf den Mann, als dessen Pistole nur noch klickt. Diese Szene hat keine unmittelbare Entsprechung in dem Text, in dem die Hunde nie direkt einen Menschen angreifen, aber sie dient als dunkle Metapher dafür, dass die Unterdrückten dieser Erde (hier sind es nur Tiere!) sich eines Tages bitter an den Unterdrückern rächen werden. Ob diese in allen Befreiungsideologien vorhandene Vision je Realität werden wird, sei dahingestellt, aber als Menetekel auf der Bühne funktioniert sie gut.

Die Kostüme sind für das Abonnementspublikum eine Herausforderung, treten die Darsteller der Hunde doch in fleischfarbenen Kostümen auf, die durch Fellimitationen und primäre Geschlechtsmerkmale bewusst das Animalische betonen. Dabei geht es jedoch nicht um eine möglichst realitätsgetreue Nachbildung der Hunde, sondern um das Groteske, denn diese als „Hundeimitation“ durchaus erkennbare Kostümierung wird ergänzt durch menschlich-zivilisatorische Zutaten wie Frack, Morgenmantel, Schuhe und andere Kleidungsstücke. Die Hunde treten also aus ausgebeutete Tiere mit menschlichen Zügen auf, was den metaphorischen Charakter verdeutlicht. Darüber sprechen diese Tiere und erzählen in verteilten Rolle die Geschichte des Hundes Buck. Dabei geht es recht robust zu. Man streitet sich ums Fressen, versucht, beim Besitzer des Gespanns Lieblingshund zu werden, bekämpft sich mit Konkurrenten bis aufs Blut und verjagt andere, weniger durchsetzungsfähige Hunde vom Futternapf. Kurz, unter den Tieren geht es zu wie unter den Menschen. Die Darsteller tragen den Text nicht in üblicher Theatermanier vor sondern stoßen ihn hechelnd oder heulend hervor, skandieren ihn einzeln oder im Chor und werfen gerne textfremde Sätze aus Literatur und Theater ein. Da wird Shakespeare frei zitiert mit „Bluten sie nicht, wenn wir sie schlagen“, oder Goethe erscheint mit „Nach Golde drängt am Golde hängt doch alles…“. Dazu erklingen Lieder wie „Je nun, sie haben ihr Teil genossen..“ aus Schuberts „Winterreise“ und andere Lieder dieses und anderer Komponisten. Soeren Voima hat diese Zitate bewusst in seine Version eingeflochten, um die stille Kumpanei der Hochkultur mit einem rücksichtslosen Kapitalismus zu entlarven, für den nur der Sieg im Wettbewerb und die Maximierung des materiellen Profits zählt.

Samuel Koch und Ensemble

Diesen Aspekt verstärkt Regisseur Weise noch mit der Person eines Managers (Oscar Olivo), der die Hundeschlitten im Stil eines kapitalistischen Unternehmers dirigiert. Für ihn sind die Hunde nur Arbeitskräfte, deren Futter bereits einen leider notwendigen, aber im Grunde genommen unnützen Kostenpunkt darstellt. Diese Figur beherrscht – wie auch seine Entsprechung des Unternehmers in Weises kapitalistischer Welt – über weite Strecken die Bühne, indem er die Hunde nach Belieben nach seiner Peitsche tanzen lässt. Die mitleidlose Ausbeutung der Tiere verfolgt er auf Englisch mit breitem Lachen und typisch amerikanischem Slang. Dieser und sein breiter Südstaaten-Hut weisen ihn nicht nur als Anhänger sondern geradezu als Kopie Donalds Trumps aus. Diese so aktuelle wie dankbare Anspielung reizen die Regie und der Darsteller denn auch mit wahrer Wonne aus. Dabei schrammen sie zwar dicht an der Knallcharge entlang, doch angesichts der Anlage der Inszenierung als Groteske passt diese Überzeichnung durchaus ins Bild und gewinnt durch die Intensität und Kompromisslosigkeit der Darstellung ein bemerkenswertes Eigengewicht.

Auch einige kryptische, nicht nachvollziehbare Regieeinfälle prägen diese Inszenierung. So liegt Samuel Koch über den größeren Teil der Aufführung in einer Art Glassarg im Felsen und sendet von dort her  nur einige rätselhafte Bemerkungen. Dann wird er als todkranker (Hund) Buck aus dem Glaskasten geborgen und nach einigem Hin und Her an den Füßen im Rückraum der Bühne aufgehängt. Die gefährliche weil überzogene Metapher von Jesus am Kreuz wird nur durch die Umkehrung der Konstellation gemildert. Weise ist offensichtlich vor einer zu vordergründigen Assoziation zurückgeschreckt. Das ist insofern klug von ihm, als eine unmissverständliche Gleichsetzung das Stück in einen Kontext katapultieren würde, dem die Handlung nicht standhalten könnte. Doch der ferne Anklang reicht, um die Botschaft von der geschundenen Kreatur in den Zuschauerraum zu senden.

Ensemble

Die Darsteller gehen bei dieser Inszenierung aufs Ganze und machen nicht auf halber Strecke Halt. Sie spielen die ausgebeuteten, gequälten Hunde als eine Meute von Verzweifelten, denen es nur noch ums Überleben geht. Dabei ist der Leidensgenosse bisweilen der größere Feind als der eigentliche Ausbeuter, weil er als Konkurrent um die kargen Ressourcen auftritt. Assoziationen an entsprechende politische und philosophische Ideologien und Theorien sind nicht zufällig sondern beabsichtigt. Der Kapitalismusvertreter tritt als Gegenpart mit derselben Kompromisslosigkeit auf und zieht alle hochmütigen, zynischen und sozialdarwinistischen Register. Die Darsteller – Gabriele Drechsel, Katharina Susewind, Christoph Bornmüller (Buck), Christian Klischat, Samuel Koch, Robert Lang, Oscar Olivo und Stefan Schuster – bilden ein kompaktes, gut aufeinander angestimmtes Team mit hohem Energiepotential. Die Rollennamen der anderen Darsteller neben Christoph Bornmüller (Buck) sind deren Vornamen entlehnt und somit im Sinne der Romanvorlage fiktiv. Trotz der teilweise extremen Situationen und schrägen Szenen gerät die Inszenierung nur selten in die Nähe zu reinem Klamauk und bringt stattdessen die düstere Atmosphäre des Romans und des dahinter stehenden gesellschaftlichen Zustands in beklemmender Weise zum Ausdruck. Falk Effenberger und Jens Dohle unterlegen die Inszenierung mit karikierter Country-Musik und begleiten die Gesangspartien von Katharina Susewind am Klavier.

Kräftiger Beifall des Premierenbeifalls, durchsetzt mit „Bravo“-Rufen.

Frank Raudszus

 

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