Annie Ernaux: „Erinnerungen eines Mädchens“

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Annie Ernaux ist eine renommierte französische Schriftstellerin des Jahrgangs 1940. In dem Roman(?) „Erinnerungen eines Mädchens“ geht sie weit zurück ins Jahr 1958. Wer zu Beginn nicht genau hinhört, hält dieses Buch vielleicht für einen fiktionalen Roman, denn sie redet von der Hauptperson Annie in der dritten Person. Erst langsam schält sich heraus, dass es sich um sie selbst handelt. Für die innere Distanz sorgt neben der dritten Person auch eine nüchterne, (psycho)analytische Darstellung dieses Mädchens, die keinerlei emotionale Bindung zu enthalten scheint. Das könnte man als Kritik missverstehen, es ist jedoch die große Stärke dieses Buches, dass die Autorin die eigenen Erlebnisse nicht zu einer Anklage gegen die schlechte Welt nutzt, sondern versucht, dieses Mädchen, das ihr im Laufe der Jahrzehnte fremd geworden ist, bis ins letzte seelische Detail zu verstehen. Dass es im Leben nicht immer gerecht zugeht, speziell für junge Mädchens, ist für sie in erster Linie eine Tatsache, die sich durch moralische Bewertung weniger gut bewältigen lässt als durch den Versuch des Verstehens.

Annie kommt aus kleinen Verhältnissen und verbringt ihre Jugend in einer katholischen Klosterschule, die sie – im Verein mit ihren gläubigen und kleinbürgerlichen Eltern – von den meisten weltlichen Versuchungen fernhält. Dank ihrer guten Zensuren – Klassenbeste! – darf sie als Achtzehnjährige zum ersten Mal als Betreuerin in ein Sommerlager für Kinder. Hungrig nach der „großen Welt“ und – ja auch! – nach ersten Liebeserlebnissen, fällt sie gleich am ersten Abend einem skrupellosen Betreuer in die Hände, der das unbedarfte Mädchen zu sich ins Bett zieht. Annie ist von dieser sexuellen Anmache sowohl verstört als auch fasziniert und entwickelt sofort eine innerliche Beziehung zu dem jungen Mann, der sie jedoch eiskalt fallen lässt. Für den Rest des Lageraufenthalts ist sie für alle „die kleine Nutte“, da ihr Partner des ersten Abends seinen Erfolgt nicht verheimlicht.

Annie Ernaux geht es im Rückblick nicht um Empörung im Sinne der „Metoo“-Debatte, sondern um die Frage, wie die damalige Annie das Erlebnis verarbeitet und schließlich verkraftet hat. Sie benötigt zu ihrem eigenen Erstaunen für die Schilderung der Wochen im Lager wesentlich länger als die damalige Dauer, da sie Jahrzehnte später versucht, sich dem jungen Mädchen bis in die letzte Verästelung ihrer Gedanken zu nähern. Dabei stößt sie sowohl auf Naivität und Gutgläubigkeit als auch auf tiefes Unverständnis der „real existierenden Welt“, die sie in ihrer Klosterschule so nicht kennengelernt hat. Ihre Versuche, ihrem Verführer wieder nahe zu kommen und ihn für sich zu gewinnen, sind natürlich – aus der Rückschau! – zum Scheitern verurteilt. Doch noch Jahre danach wird sie versuchen, seinem Lebenslauf zu folgen.

Nach dem Sommeraufenthalt beendet sie die Schule mit Auszeichnung und beginnt eine Ausbildung zur Grundschullehrerin. Zusammen mit einer Freundin beschließt sie, die Ausbildung mangels Interesse und Eignung abzubrechen und stattdessen Literaturwissenschaften zu studieren. Die Übergangszeit bis zum Studienbeginn überbrückt sie als Aupair-Mädchen in England. Mit dem Beginn des Studiums endet das Buch.

Obwohl Lehrerausbildung und Englandaufenthalt nichts mehr mit den Ereignissen im Sommerlager zu tun haben, sind sie für diese „Kurzbiographie“ wichtig, weil sie Annies Entwicklung in dem Jahr nach diesen prägenden Erlebnissen schildern. In dieser Zeit verarbeitet Annie die verstörende Erfahrung einer tiefen Demütigung und reift über verschiedene „Stolperstationen“ zu einer selbstbewussten jungen Frau. Doch Annie Ernaux baut um ihre Jugend keine „coming of age“- Story mit Herz, Schmerz und edler Reife, sondern analysiert nüchtern und trocken ihre damalige Befindlichkeit. Fast könnte man meinen, hier sei eine Psychotherapeutin am Werke, doch das trifft den Kern auch nicht, da es ihr nicht um die späte Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse geht, sondern einfach nur um das Verständnis der Sicht einer jungen Frau auf die Welt, das Leben und die Männer. Das Buch endet daher auch nicht mit einem „Fazit“ oder gar als kämpferische Aufforderung an die weibliche Leserschaft, sondern ganz schlicht mit der Aufnahme der Tätigkeit, die ihr späteres Leben bestimmen wird, nämlich der Literatur.

Maren Kroymann liest das Hörbuch mit genau der richtigen Mischung aus Empathie für das junge Mädchen und Distanz der älteren Frau zu ihrer eigenen Geschichte. Dabei fällt neben der lebendigen Schilderung vor allem der Verzicht auf wohlfeile Moralpredigten positiv auf.

Das Hörbuch ist im Audio-Verlag erschienen, umfasst vier CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 2 Stunden und 22 Minuten und kostet 20 Euro.

Frank Raudszus

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