Volker Kutscher: „Marlow“

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Nach der Serie „Babylon Berlin“ vor einigen Jahren kennt fast jeder deutsche Fernsehzuschauer den (Ober-)Kommissar Gereon Rath, der sich in der Serie mit dem kriminellen Berliner Umfeld der zwanziger Jahre herumschlagen musste.

Mittlerweile sind Jahre vergangen, und die Nationalsozialisten haben nicht nur die Macht übernommen, sondern den Staat auch gründlich zu einer Diktatur des (SA- und SS-)Proletariats umgeformt. Gereon Rath und seiner Frau Charlotte, genannt Charlie, gefällt das gar nicht, aber sie müssen mit den neuen Verhältnissen irgendwie klarkommen, denn todessüchtige Widerstandskämpfer sind sie (noch) nicht.

Als nicht linientreuer Bürger ist Rath bei der Mordkommission de facto kaltgestellt und bearbeitet nur noch unwichtige Fälle. Etwa den Tod eines SS-Offiziers in Zivil auf einer Taxifahrt. Seltsam mutet Rath nur die Tatsache an, dass der Taxifahrer ungebremst und offensichtlich mit Absicht gegen eine Mauer gefahren ist. Als der Rechtsmediziner bei dem Fahrer einen Gehirntumor im Endstadium feststellt, wachsen die Zweifel weiter, und sie verfestigen sich endgültig, als Rath von anderen Taxifahrern erfährt, dass der Unglücksfahrer die besagte Tour geradezu von ihnen erbettelt hatte. Den größten Schock üben jedoch die Unterlagen des getöteten SS-Mannes auf Rath aus, die er in kriminalistischer Routine öffnet: sie enthalten belastendes Material über Polizeiminister Hermann Göring, den innenpolitischen Gegner der SS-Führer Himmler und Heydrich.

Nachdem sich Rath der gefährlichen Unterlagen vermeintlich elegant entledigt hat, geht er den Ungereimtheiten dieses scheinbar eindeutigen Verkehrsunfalls nach und stößt auf weitere brisante Fakten. So ist die angebliche Verlobte des SS-Offiziers ausgerechnet Görings Sekretärin. Für Rath ist schnell klar, dass der SD, der Sicherheitsdienst der SS, belastendes Material gegen Göring sammelt, und dass er selbst als kleiner Kriminalkommissar mitten in den Strudel dieses tödlichen Spiels geraten ist. Dennoch ermittelt er gemäß seines kriminalistischen Ethos´ unbeirrt weiter und erhält prompt Besuch vom SD, der die brisanten Unterlagen vermisst und ihn als ersten Kommissar am Unfallort (zu Recht!) verdächtigt.

Parallel dazu läuft ein zweiter Handlungsstrang mit seiner Frau Charlie, die nach ihrer politisch bedingten Blockierung als angehende Rechtsanwältin (kein Beruf für Frauen im neuen Deutschland!) für einen ehemaligen Kollegen ihres Mannes und jetzigen Privatdetektiv arbeitet. Dabei wird sie von einem jungen Halbchinesen kontaktiert, der ihr und ihrem Mann zusammen mit seinem Chef aus dem Berliner Unterwelt-Milieu einige Probleme bereitet hat, und der jetzt ihre juristische Hilfe benötigt. Während sie dem Chinesen – halb misstrauisch, halb hilfsbereit – bei seinen Problemen hilft, stößt Gereon bei seinen Nachforschungen zunehmend auf Querverbindungen zu dessen Chef, der einst aus dem kleinen mecklenburgischen Marlow nach Berlin kam und dort den Namen seines Heimatortes angenommen hat. Der Zuhörer ahnt die Zusammenhänge, wird er doch anfangs Zeuge einer dramatischen Szene in Marlow am Ende des Ersten Weltkriegs.

Gereon Rath und seine Frau geraten immer tiefer in die gefährlichen Fahrwasser intriganter Politik und Berliner Unterwelt, wobei die Grenzen zwischen diesen beiden Welten mehr als bedenklich verschwimmen. Rath wird sich der prekären Situation und der latenten Gefahr für ihn und seine Frau immer deutlicher bewusst, doch sein Rechtssinn und sein kriminalistischer Instinkt lassen ihn nicht ruhen, bis er die wahren Hintergründe eines scheinbar simplen Autounfalls aufgeklärt hat. Im Zuge dieser Nachforschungen kommt wegen seltsamer Parallelen auch ein alter Fall um den vermeintlichen Unfalltod seines Schwiegervaters wieder hoch, was Rath wiederum einen Konflikt mit seiner Frau einbringt.

Wir wollen hier keine weiteren Details dieses historischen Kriminalromans verraten, um potentiellen Lesern bzw. Hörern nicht die Spannung zu rauben. Der Autor hat die verschiedenen Handlungsstränge sowohl jeweils in sich konsistent und logisch aufgebaut und auch deren Verflechtungen glaubwürdig und politisch nachvollziehbar gestaltet. Man spürt förmlich die Unsicherheit und die stete Gefährdung aller noch rechtsstaatlich denkenden und handelnden Personen und zittert mit ihnen und um sie. Am Ende haben sich zwar die Nebel der Verschleierung und der Lügen aufgelöst, angesichts der Verstrickungen der politischen Führer ist das für Gereon Rath und seine Frau jedoch eher ein schlechtes Omen als Grund zur Zufriedenheit, denn sowohl die entlarvten Nazi-Bonzen als auch Unterweltbosse sinnen auf Rache.

Volker Kutscher lässt am Ende im Gegensatz zum klassischen Krimi einige Dinge offen, so dass sich eine Fortsetzung in einem neuen Roman geradezu anbietet. Damit macht er allerdings auch die Hörer süchtig, denn die wollen natürlich wissen, wie es mit Gereon und Charlie unter dem Nazi-Regime weitergeht. Sprecher David Nathan hat dabei durch seine eindringliche und vielschichtige Sprache einen großen Anteil an der Wirkung dieses Hörbuchs. Problemlos wechselt er vom Idiom eines Berliner Taxifahrers zu dem eines fränkischen Ortspolizisten, eines elfjährigen Hitlerjungen oder eines zackigen SA-Offiziers, und jedes Mal wirkt seine stimmliche Darstellung der jeweiligen Figur überzeugend. Der Rezensent wartet schon ungeduldig auf die nächste Folge.

Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst zwei mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 820 Minuten und kostet in der gekürzten Version 24 Euro.

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